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Gerolzhofen
In Stein konservierte jüdische Geschichte
Norbert Vollmann
Norbert Vollmann
 |  aktualisiert: 03.12.2019 09:51 Uhr

Sie haben sie erst verleumdet und verprügelt, schließlich verschleppt und vergast. So systematisch wie die Nationalsozialisten Adolf Hitlers bei der Ermordung der Millionen von Juden in den Konzentrationslager genannten Menschenvernichtungsanlagen auch vorgingen, eines ist ihnen nicht gelungen, nämlich auch die Erinnerung an die jüdischen Gemeinden und ihre Kultur aus unserem Bewusstsein zu tilgen.

Eines dieser unauslöschlichen Mahnmale und Zeugnisse der jüdischen Vergangenheit in Deutschland ist der offiziell Israelitischer Friedhof genannte jüdische Friedhof auf dem Kapellberg.

Evamaria Bräuer: Ausgewiesene und gefragte Kennerin

Dafür, dass die Namen der hier beerdigten Frauen, Männer und Kinder nicht vergessen werden und die einstigen jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürger mitten unter uns bleiben, sorgt seit Jahren Evamaria Bräuer. Sie ist zu einer ausgewiesenen und gefragten Kennerin der jüdischen Sitten und Gebräuche im Allgemeinen und der Geschichte der jüdischen Gemeinde und des Gerolzhöfer Judenfriedhofs, wie er von der Bevölkerung genannt wird, im Besonderen geworden.

Fotoserie

Anfragen aus der ganzen Welt

Das wissen nicht nur die vielen Angehörigen aus der ganzen Welt von Argentinien, über die USA bis nach Israel zu schätzen, die auf der Suche nach Spuren ihrer Vorfahren in Gerolzhofen bei Evamaria Bräuer anfragen. Immer häufiger sind es auch Schulklassen, die sie vor allem durch deren aktive Einbeziehung in die Forschungsarbeit in ihren Bann zu ziehen versteht.

Die Gäste aus Jerusalem

So wie jetzt die Austauschschüler der Mae-Boyar-Highschool aus Jerusalem und ihre Alterskollegen und Gastgeber aus den 10. Klassen des Steigerwald-Landschulheims Wiesentheid. Für die jungen Menschen und ihre Lehrer aus Israel war es eine besondere Zeitreise zurück in die Vergangenheit des eigenen Volkes. Seit 2012 bestehen die Verbindungen zwischen den Partnerschulen.

Die etwa 40-köpfige Gruppe mit den Austauschschülern aus Jerusalem und Wiesentheid sowie ihren Lehrerinnen und Lehrern erfuhr in diesen rund zwei Stunden viel Wissenswertes über den Friedhof und die jüdischen Bestattungsriten.

Der Friedhof wurde einst als Distriktsfriedhof für Gerolzhofen und die jüdischen Gemeinden im Umkreis in den Jahren 1631 bis 1632 nach jüdischer Sitte außerhalb der Stadttore angelegt und später erweitert.

Die heute auf einer Fläche von einem Hektar in 44 Grabreihen beerdigten über 500 Menschen stammen soweit dies mangels eines überlieferten Belegungsplans anhand der Inschriften nachvollziehbar ist, neben Gerolzhofen aus Frankenwinheim, Lülsfeld, Zeilitzheim, Bischwind, Traustadt, Prichsenstadt, Altenschönbach, Kirchschönbach, Brünnau, Gochsheim, Obereuerheim, Westheim, Schwebheim, Haßfurt oder Schweinfurt. Auch Gräber von Insassen des Gefängnisses in Ebrach oder von in Unterfranken gestorbenen Durchreisenden aus Johannesburg oder Chicago sind hier zu finden.

Die letzte offizielle und eine allerletzte heimliche Bestattung auf dem Friedhof

Die letzte offizielle Beisetzung war die des Vorstandes der jüdischen Gemeinde in Gerolzhofen, Willi Brodmann, am 2. Februar 1942 an der Seite seiner Frau Selma, der Vorsitzenden des israelitischen Frauenvereins. Danach wurde der Friedhof durch die Nazidiktatur für geschlossen erklärt.

Dennoch kam es am 25. April desselben Jahres noch zur heimlichen Bestattung des 73-jährigen Gerolzhöfer Kaufmanns Hermann Löbhardt, Brodmanns Nachfolger an der Spitze der jüdischen Gemeinde. Mit hoher Wahrscheinlichkeit halfen Einwohner christlichen Glaubens bei der Beerdigung, denn drei Tage zuvor waren die ersten der verbliebenen wenigen Juden aus der Stadt, darunter Löbhardts Sohn Stephan (44), über Würzburg in das von Deutschland am 1. September 1939 überfallene und seitdem besetzte Polen deportiert worden. Keiner kehrte zurück, alle wurden ermordet. Das vom Gras überwucherte Grab Hermann Löbhardts war erst 2001 bei einem Projekt mit Schülern wiederentdeckt worden.

Der Steintisch für die Waschungen

Quasi zum Einstieg warf Evamaria Bräuer auf dem Friedhof, hebräisch Haus der Ewigkeit oder auch Haus des Lebens genannt, mit den Schülern einen Blick ins Innere des Tahara-Leichenhauses mit dem steinernen Tisch. Auf ihm wurden die Toten mit rituellen Waschungen auf ihren letzten Weg in die Ewigkeit vorbereitet.

Spuren an der Wand lassen noch erkennen, dass einst eine Treppe in einen zweiten Stock führte. Der Hintergrund: Die Gestorbenen mussten noch am gleichen Tag beerdigt werden, wurden aber nicht allein gelassen, sondern ihre Seele bis zum Begräbnis begleitet, um im nächsten Leben in der Ewigkeit anzukommen.

Den Sarg von Prichsenstadt nach Gerolzhofen getragen

Die Beisetzung erfolgte in einem Leichentuch, ab dem 19. Jahrhundert in einem einfachen Fichtensarg. Es ist bekannt, dass die Särge zum Beispiel zum Teil von Prichsenstadt bis nach Gerolzhofen mangels Geld beziehungsweise Pferdefuhrwerk auf den Judenfriedhof getragen werden mussten. Erst Ende des 19. Jahrhunderts schaffte die Kultusgemeinde einen Begräbniswagen an.

Bei der Beerdigung wurde der Sarg auf dem Weg zum Grab noch dreimal hart abgesetzt, um der Seele Gelegenheit zu geben, sich vom Körper zu trennen und die Erde zu verlassen.

Grabsteine und Särge sind in Erwartung der Ankunft des Messias nach Jerusalem ausgerichtet

Die Grabsteine wurden zum Jahrtag nach dem Begräbnis gesetzt. So wie die Toten, deren Augen mit Tonscherben verschlossen wurden, nach Jerusalem schauen, sind auch die Inschriften auf den Grabsteinen nach Osten ausgerichtet, damit der Messias – am Tage der Auferstehung von Jerusalem kommend – diese würdigen kann, wenn er zu den Gestorbenen kommt, so die Vorstellung der in der Diaspora lebenden Juden.

Lediglich die Grabsteine der Frauen, die bei oder nach der Geburt neuen Lebens starben, stehen als Zeichen ihrer Wertschätzung um 90 Grad nach Norden gedreht. Sie wurden hierzu auch in Festtagskleidung in einem separaten Bereich beigesetzt.

Bei der schwierigen Entzifferung von teils verwitterten Inschriften in hebräischer Sprache geholfen

Die jüngeren Steine sind zweisprachig mit hebräischen und lateinischen Buchstaben beschriftet, die im älteren Teil ausschließlich hebräisch. Das erschwert bei gleichzeitig fortschreitender Verwitterung die Entzifferung. Zudem sind in den Sandstein eingehängte Platten mit dem Inschriften aus Marmor oder Glas im Winter nach Wassereinbruch aufgrund der Kälte gesprungen und so zerstört worden. Direkt in den Stein gemeißelte Inschriften haben überdauert.

Als hätten die Schüler und ihre Lehrer aus Jerusalem auf das Signal von Evamaria Bräuer gewartet, beteiligten sie sich eifrig an der Entzifferung besonders schwer aus dem Hebräischen ins Deutsche zu übersetzende Inschriften. So wissen wir durch die aktive Mithilfe der Gäste aus Israel jetzt, dass in einem Grab an der Ostseite Zerlina Reinhard, die Frau des Vieh- Immobilienhändlers Moses Reinhard aus der Salzstraße ruht. Die in New York lebenden Nachkommen besuchten Gerolzhofen vor einigen Jahren. Sie werden sich über die Entdeckung freuen.

Sprach-Probleme der Steinmetze

Oftmals waren die Steinmetze Christen, die der hebräischen Sprache nicht mächtig und deshalb auf Vorlagen angewiesen waren. Auch die Mundart spielte hinein. So muss man erst einmal erahnen, dass mit „Zalzem“ der Nachbarort Zeilitzheim gemeint ist.

Verbrennung: Die letzte perfide „Rache“ der Nazis an den ermordeten Juden

Dem jüdischen Glaubensverständnis nach, gehört das Grab den Toten auf ewig und darf deshalb nicht zerstört oder geöffnet werden. Erdbestattung ist Pflicht, die Einäscherung verboten. Sie kommt einer Schändung gleich. Durch ihre Verbrennung im Rahmen des Holocaust (hebräisch: Shoa) nahmen die Nazis streng gläubigen Juden die Chance, an der Auferstehung teilzunehmen und in der Ewigkeit anzukommen. In Gerolzhofen blieben die Gräber gottlob unversehrt.

In den Jahren 1631 und 1632 wurde der Israelitische Friedhof in Gerolzhofen für Beerdigungen von Bewohnern aus der Stadt und dem näheren wie weiteren Umkreis errichtet. Das später erweiterte Gelände ist heute einen Hektar groß.
Foto: Vollmann | In den Jahren 1631 und 1632 wurde der Israelitische Friedhof in Gerolzhofen für Beerdigungen von Bewohnern aus der Stadt und dem näheren wie weiteren Umkreis errichtet.
Zum Beginn ihrer Führung über den Judenfriedhof begab sich Evamaria Bräuer mit ihren Gästen in das Taharahaus, indem die Leichen gewaschen wurden.
Foto: Vollmann | Zum Beginn ihrer Führung über den Judenfriedhof begab sich Evamaria Bräuer mit ihren Gästen in das Taharahaus, indem die Leichen gewaschen wurden.
Zahlreiche Einträge im Gästebuch von Evamaria Bräuer künden von Besuchern aus aller Welt, die auf dem Gerolzhöfer Judenfriedhof auf den Spuren ihrer Vorfahren wandelten, darunter die Guggenheims aus den USA.
Foto: Vollmann | Zahlreiche Einträge im Gästebuch von Evamaria Bräuer künden von Besuchern aus aller Welt, die auf dem Gerolzhöfer Judenfriedhof auf den Spuren ihrer Vorfahren wandelten, darunter die Guggenheims aus den USA.
 
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  • E. B.
    Warum muss ich immer Judenfriedhof lesen? Sagen wir auch Katholikenfriedhof?
    Es heißt jüdischer Friedhof oder eben auch Israelitischer Friedhof. Warum hat der Autor Israelitischer Friedhof in Anführungszeichen gesetzt? Unüblich! Fragen Sie doch einfach den Eigentümer des Friedhofs nach der offiziellen Bezeichnung, dann wissen Sie es.
    Zudem heißt es nicht: nach Polen, sondern ins von Deutschen besetzte Polen deportiert.
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