
Die meiste Zeit liegt der jüdische Friedhof ziemlich verlassen am Nordhang des Kappellbergs. Viele Grabsteine sind verwittert, ihre Inschriften kaum noch leserlich. Auch wenn das Areal einen gepflegten Eindruck vermittelt, das Vergessen scheint sich hier allenthalben breit zu machen. Das Vergessen einer ganzen Bevölkerungsgruppe, die hier in der Region gelebt und gearbeitet hat, sich manchmal gefreut und am Ende nur noch gelitten hat.
Doch der israelitische Friedhof ist immer noch eine Fundgrube für alle, die nach ihren familiären Wurzeln in Gerolzhofen und Umgebung suchen. Das tun in letzter Zeit auffallend viele. Allein viermal war Evamaria Bräuer in den vergangenen Monaten gefragt. Sie kennt sich in der Geschichte der jüdischen Gemeinden in Gerolzhofen und Umgebung hervorragend aus und half bei der Spurensuche.
Als erster suchte Jeffrey Hahn aus New York im Mai den Kontakt zu der Gerolzhöfer Expertin. Die Wurzeln seiner Familie liegen in Prichsenstadt und Kirchschönbach. Jeffreys Vater Otto erlebte ab 1942 eine wahre Odyssee durch viele Gettos und Konzentrationslager. Das geht aus einem Brief Otto Hahns hervor, den er um 1990 geschrieben haben muss und den Jeffrey Hahn Evamaria Bräuer zugänglich machte.

Otto Hahn, geboren 1923 in Prichsenstadt, war ein Sohn von Moritz und Babette Hahn, der in Prichsenstadt und Kitzingen einen Weinhandel betrieb. Moritz Hahn wiederum war Sohn des Mehlhändlers Abraham Hahn, dessen sechsköpfige Familie sich seit 1883 in Kirchschönbach nachweisen lässt.
Otto hatte noch eine Schwester namens Ilse, die 1942 mit 18 im Konzentrationslager Izbica Krasniczyn in Polen ums Leben kam. Die Mutter starb 1938, der Vater 1939 in der Heimat.
Die Lager überlebt
Otto selbst war nach seiner Schilderung von 1939 bis 1941 in Gehringshof, einer landwirtschaftlichen Ausbildungsstätte für jüdische Palästina-Auswanderer. Dort wurde er verhaftet und ins Getto von Riga gebracht. Weitere Stationen waren Sallaspiltz, Kaiserwald, Stutthof, Buchenwald und Theresienstadt. Dort wurde er 1945 von der russischen Armee befreit. Nach Evamaria Bräuers Kenntnistand sind Otto Hahn und Ludwig Gutmann aus Schwanfeld die einzigen aus der Region Gerolzhofen, die die Konzentrationslager überlebten.
Nach der Befreiung durfte Hahn das Konzentrationslager nicht gleich verlassen, sondern musste die Verantwortung für den dortigen Gemüsegarten übernehmen. Nach etwa zwei bis drei Wochen tauchte das Rote Kreuz im Lager auf und sagte den verbliebenen ehemaligen Häftlingen, sie könnten frei wählen, wohin sie möchten. Otto Hahn entschied sich seltsamerweise für Deutschland, weil er hoffte, er könnte dort seine Schwester noch finden.

An dieser Stelle fügt sich ein Puzzleteil aus dem Gerolzhöfer Stadtarchiv ins Bild ein. Es basiert auf einem Gedächtnisprotokoll des damaligen Bürgermeisters Franz Kreppel aus dem Jahr1962. Konditormeister Robert Schoué habe Kreppel gegenüber erklärt, noch im Jahr 1945 sei ein Herr Otto Hahn aus Prichsenstadt – noch in Häftlingskleidung – zu Schoué gekommen.
Auf Bitten von Captain Philipps von der amerikanischen Militärregierung übernahm Schoué die Ausbildung Hahns. Hahn hat nach Kreppels Aufzeichnungen Schoué darum gebeten, ihm in möglichst kürzester Zeit möglichst viel beizubringen, da er wieder mit Krieg in Europa rechnete und nicht mehr in ein Konzentrationslager wollte.
Otto Hahn äußerte den Wunsch, nach Amerika zu wollen, da dort seine nächsten Angehörigen lebten. Das ging dann auch sehr rasch. Nach einer ärztlichen Untersuchung in München kam er nach Hamburg, wo er in die USA eingeschifft wurde.
Als Bäcker in den USA
Das deckt sich mit Hahns Aufzeichnungen. Ab 1946 bis 1970 machte Hahn in den USA als Bäcker weiter. Seine Frau Marga, geborene Loewi, hatte er 1948 geheiratet. Aus dieser Ehe gingen Tochter Judith und Sohn Jeffrey hervor. Beide haben heute Familie und nehmen am religiösen jüdischen Leben teil.
Gegenüber Evamaria Bräuer berichtete Jeffrey Hahn, seine Eltern hätten von den Erlebnissen im KZ nie erzählt. Sie hätten sich in eine innere Emigration begeben, um sich und ihre Kinder zu schützen.

Nach Otto Hahn haben sich auch Nachkommen der Familie Prölsdörfer, Blüthe und Reis/Braun bei Evamaria Bräuer gemeldet und um Hilfe bei der Suche nach den Wurzeln gebeten (über ihr Schicksal werden wir noch berichten). Bräuer führt diese Häufung auf einen speziellen Grund zurück: Die übernächste Generation nach dem Holocaust geht jetzt so langsam in Ruhestand und beginnt sich um die Familiengeschichte zu kümmern.
„Viele haben gar nicht gewusst, wo ihre Wurzeln sind“, sagt sie. Vielleicht haben sich die Besucher an die Weisheit aus dem Talmud orientiert: „Das Vergessenwollen verlängert das Exil, und das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung.“ Gewiss ein starkes Motiv, um sich zum ersten Mal im Leben nach Deutschland zu begeben, dem Land, von dem der Holocaust ausging.
Noch eins ist Bräuer aufgefallen: Ihre Besucher haben einen unterschiedlich starken Bezug zum Judentum. Während die einen noch fest in der Religion verwurzelt sind, wissen andere so gut wie nichts mehr von den jüdischen Gebräuchen. So gehört es sich zum Beispiel, beim Besuch eines jüdischen Friedhofs einen Stein auf das Grab zu legen. Davon wussten zwei Besucher erst, als sie den Gerolzhöfer Friedhof wieder verließen.
Spenden für den Friedhof
Übereinstimmend äußerten sich die Besucher der jüngeren Zeit, dass sie vom Zustand und der Pflege des Friedhofs beeindruckt waren. Fast alle hinterließen auch großzügig ausgestellte Schecks für die künftige Pflege der Grabsteine der Familie oder des gesamten Friedhofs.