Das Thema Tod und Sterben wird oft beiseite gedrängt. Wer beschäftigt sich schon gerne mit der eigenen Endlichkeit oder der von nahestehenden Menschen? Dabei werde es wichtiger denn je, sich vorausschauend damit auseinanderzusetzen. Das betonen übereinstimmend Dr. Volker Ziegler, Chefarzt für neurologische Frührehabilitation und neurologische Intensivmedizin am Rhön-Klinikum Campus Bad Neustadt, und der Ärztliche Direktor und Chefarzt der Klinik für Kardiologie I des Rhön-Klinikums, Professor Sebastian Kerber.
Beide zeichnen verantwortlich für die Fachtagung "Wie werden wir in Zukunft sterben?" am 3. Mai am Campus in Bad Neustadt. Das Motto der Veranstaltung trägt bewusst den gleichen Namen wie ein 2023 erschienenes Buch, in dem Szenarien zu Sterben, Tod und Trauer im Jahr 2045 behandelt werden. Im Vorfeld standen die beiden Mediziner zusammen mit dem per Telefon zugeschalteten Mit-Herausgeber des Buches, Professor Wolfgang George, für ein Interview zu dem Themenkomplex zur Verfügung.
Sterben im Jahr 2023 und im Jahr 2045: Wie werden sich die Szenarien generell unterscheiden?
Volker Ziegler: Wir registrieren derzeit schon eine Zunahme des Sterbens im Krankenhaus. Das Sterben daheim ist sehr zurückgegangen und wird wahrscheinlich auch noch weiter zurückgehen. Die Familie lebt nicht mehr im Verbund wie früher. Die älteren Menschen bleiben zumeist allein zurück. Damit wird das Alleinsein und auch das Alleinsterben im Krankenhaus weiterhin eher zunehmen. Ein weiterer Trend: Die Medizin ist heute deutlich weiterentwickelt als vor 30 Jahren. Wir haben Patientinnen und Patienten, die Krankheiten überleben, an denen sie früher gestorben wären.
Welche Linderungen könnten sich für Sterbende im Jahr 2045 ergeben und wo könnte es sich zum Schlechteren entwickeln?
Sebastian Kerber: Linderung kann sich ergeben, wenn es mehr Palliativstationen gibt, die sich dem Begleiten des Sterbeprozesses professionell annehmen. Das ist eine ganz wichtige Entwicklung. Aber ich befürchte, das ist die Kehrseite der Medaille, dass in den nächsten Jahren der Bedarf größer als das Angebot sein wird.
Wie kann den negativen Entwicklungen entgegengewirkt werden?
Ziegler: Wir müssen die medizinischen Berufe, inklusive die der Pflege, wieder mehr ins Bewusstsein bringen. Die Ausbildungen und auch der Beruf selbst haben an Attraktivität verloren. Der Wert der Befriedigung durch die Arbeit muss verstärkt zu den Menschen kommen, die sich für das Berufsbild interessieren. Ferner müssen wir auch wieder der Gesellschaft beibringen, dass das Krankenhaus keine Reparaturwerkstatt ist, in der man etwas austauscht und dann funktioniert wieder alles. Das ist die Erwartungshaltung an uns. Wir können zwar sehr viel, aber keine Wunder vollbringen.
Es gibt eine steigende Zahl von Sterbenden in Krankenhäusern, fortschreitenden Personalmangel in der Pflege und nachlassende Familienstrukturen. Wie kann auf diese Problemlage reagiert werden?
Wolfgang George: Meine Prognose ist, dass in der Zukunft deutlich mehr zu Hause sterben, als es heute der Fall ist. Auch aus ökonomischen Gründen, die ich als sehr problematisch einschätze. Wir brauchen in der Gesellschaft so etwas wie eine Sorgekultur. Das heißt, dass in kleinparzelligen Räumen über die Angehörigen hinaus Netzwerke nachbarschaftlicher Art oder mit Freunden gebildet werden. Diese Unterstützer werden parallel zur professionellen ambulanten Pflege tätig. Es wird Aufgabe der kommunalen Intelligenz sein, alte Menschen mit neuen Versorgungsformaten, die der harten zukünftigen Realität geschuldet sind, menschenwürdig zu betreuen.
Was können die einzelnen Akteure tun, um die letzte Phase des Lebens menschenwürdig zu gestalten?
George: Die palliative Medizin und Versorgungskultur hat sehr viele Instrumente in der Hand, um einen ruhigen Tod zu ermöglichen. Auch in den Hospizen und stationären Einrichtungen können Menschen allein, aber dennoch in Ruhe und in Frieden sterben. Ich glaube, dass wir über alle Möglichkeiten verfügen, sodass das Ende nicht ein dramatisches Sterben ist.
Ziegler: In der Klinik für neurologische Frührehabilitation sind wir gerade dabei, ein Zimmer für die Sterbebegleitung einzurichten. Manche Sterbenden möchten die Familie dabeihaben, manche halten das nicht aus. Wir möchten einen Raum schaffen, wo für alle klar ist, hier brauchen wir keine Notfallmediziner. Der Mensch darf gehen. Im Beisein seiner Angehörigen.
Welche Rolle spielt dabei die vorausschauende Lebensplanung?
Kerber: Das Thema Sterben ist nicht so medial, dass es einen aktiven Auseinandersetzungsprozess damit gibt, obwohl es zum Leben dazu gehört. Man verdrängt das Thema in eine dunkle Ecke und beschäftigt sich nicht damit. Das macht es uns Medizinern schwer, Patienten oder Angehörigen klarzumachen, wenn ein Eingriff ein hohes Risiko hat oder nicht im Sinne eines Schwerstkranken ist. Der emotionale Druck, der in so einem Fall auf den Ärzten lastet, ist sehr groß. Die Frage, was man den Patienten raten soll, ist belastend. Es wäre besser, wenn die Auseinandersetzung, wie man alt werden und wie man sterben möchte, nicht erst zu einem Zeitpunkt geschieht, an dem man auf der Intensivstation liegt.
George: Man befasst sich zwar heute stärker mit dem Thema Sterben, Tod und Trauer, aber es bleibt auf eher kursorischem (oberflächlichem) Niveau. Wichtig wäre, die Menschen immer wieder biografie- und altersgerecht mit dem Thema zu konfrontieren. Da haben die Schule oder auch die Erwachsenenbildung einen klaren Auftrag. Wenn diese Vorarbeiten fehlen, werden die Medizin und Pflege, wenn die Konfrontation da ist, vor Aufgaben gestellt, die ad hoc nicht ohne weiteres lösbar sind. Eine vorausschauende Lebensplanung hinsichtlich dessen, was man sich in der letzten Lebensphase wünscht, ist sehr wichtig. Am besten professionell begleitet, etwa vom Hausarzt.
Ziegler: Wir haben es hier in der Klinik für neurologische Frührehabilitation oft mit Patientinnen und Patienten zu tun, die schwerst betroffen sind. Dabei machen wir immer wieder die Erfahrung, dass wir die ersten sind, die die Frage stellen, ob man sich schon über seine letzte Lebensphase Gedanken gemacht hat. Wir stellen immer wieder fest, dass einfach zu wenig darüber geredet wird, und die Angehörigen nicht wissen, was der Vater oder die Mutter möchten. Man muss sich damit auseinandersetzen und klare Linien festlegen.
Wie wird das gesellschaftliche Verhältnis zum Thema "assistierter Suizid" bis zum Jahr 2045 prognostiziert, und was bedeutet das für die Krankenhausversorgung?
George: Unsere Gesellschaft und die Krankenhäuser müssen sich proaktiv mit dem Thema auseinandersetzen. Aktuell sind wir auf solch einen Versorgungsauftrag nicht vorbereitet. Bei diesem Thema sehe ich die demenziell Erkrankten als sehr gefährdet an. Aber auch Menschen mit einer depressiven Grundhaltung, die meinen, allen im Weg zu stehen, sowie die Personen, die ihrer Familie nicht zur Last fallen wollen. Diese Haltungsentwicklung ist nicht unrealistisch. Durch das Angebot des assistierten Suizides könnte eine Person in einen Weg gedrängt werden, den sie ansonsten nicht wählen würde. Hinzu kommt: Was unsere Gesellschaft und die Krankenhäuser zur Suizid-Prävention tun müssten, ist so unglaublich viel, dass deutlich wird, wie leicht diese Tür gegenwärtig zu öffnen ist. In dieser Situation aktive Hilfe beziehungsweise Assistenz zu geben, halte ich für eine sehr schwierige Erlösungssituation. Das Thema ist problematisch, nicht zuletzt für die Helfer: Wer soll wie bei einem Suizid assistieren?
Welche Visionen und Hoffnungen haben Sie beim Gedanken an die Zukunft? Welche Rolle spielt dabei die Technologie?
George: Von der Künstlichen Intelligenz (KI) sind bestimmte Entscheidungs- und Unterstützungssysteme erwartbar, die manches für uns, die professionellen Helfer, vereinfachen könnten. Nicht dass wir uns hinter der KI zurückziehen sollten, aber wir könnten bestimmte Entscheidungen des Vorgehens und der Prozesssteuerung durch die KI im Sinne der Menschen und der Versorger gestalten.