Auch wenn die Schlagzeilen derzeit von Meldungen über Corona beherrscht werden, Krankheiten wie Herzinfarkt oder andere Herzbeschwerden legen leider keine Pause ein. Sie nehmen keine Rücksicht darauf, dass das gesamte Klinikleben durch die Pandemie enorm belastet ist. Der lange Arm von Corona reicht in alle Abteilungen eines Krankenhauses hinein und so wird auch die Kardiologie wesentlich von Covid-19 bestimmt. Wie sieht im Schatten von Corona der Alltag der Herzspezialisten aus? Das schildern Chefarzt Prof. Dr. Sebastian Kerber und Oberarzt Dr. Daniel Hansch vom Rhön-Klinikum Campus Bad Neustadt.
Während des ersten Lockdowns im Frühjahr des vergangenen Jahres sei der Betrieb der Kardiologie deutlich heruntergefahren worden, blickt Daniel Hansch zurück.Für kurze Zeit habe man sich nahezu komplett auf Notfälle konzentriert und planbare Eingriffe überwiegend zurückgestellt. Nach und nach sei Letzteres dann wieder ausgeweitet worden. Ziel des Klinikums sei ein Gleichgewicht zwischen der Behandlung der Corona-Patienten - das sind in der Regel stets 20 bis 30 Personen - und der Sicherstellung der Versorgung anderer schwer- und schwerstkranker Personen.
"Diese Balance zu halten, ist ein sehr komplizierter Vorgang und eine große logistische Herausforderung", führt Sebastian Kerber weiter aus. "Wir versuchen, immer auf der sicheren Seite zu sein, sowohl was die Behandlung von Corona-Patienten als auch von kardiovaskulären Notfällen betrifft." Um mehr Freiraum bei den Bettenkapazitäten zu haben, sei in der Kardiologie zum Beispiel die Zahl der ambulant durchgeführten Herzkatheter-Untersuchungen verstärkt worden, erklärt Dr. Hansch. Hier registriere man mittlerweile eine Steigerung um 60 Prozent im Jahr 2020 verglichen mit dem Jahr 2019.
Zuverlegungen von Corona-Patienten aus anderen Kliniken
Am Campus Bad Neustadt finden regelmäßig Konferenzen statt, bei denen die aktuelle Lage und die Bettenkapazitäten unter die Lupe genommen werden und die zentrale Frage ansteht: Was ist zu leisten? Als überregionales Corona-Schwerpunktkrankenhaus werden dem Rhön-Klinikum Covid-19-Patienten aus anderen Krankenhäusern zu verlegt. Je mehr Corona-Fälle, desto mehr Ärzte und Pflegepersonal aus anderen Abteilungen versorgen diese Patienten mit. "Das Personal fehlt dann woanders", so Prof. Kerber. Im wöchentlichen Wechsel arbeiten die Assistenzärzte der Kardiologie - wie auch die anderer Disziplinen - auf den drei Corona-Stationen des Campus. Die Ober- und Chefärzte sind planerisch und beratend eingebunden. Und natürlich werden auch Corona-Erkrankte mit relevanten Herzproblemen kardiologisch betreut.
Professor Kerber und Dr. Hansch beobachten seit dem ersten Coronaausbruch einen beunruhigenden Trend: Viele sehr kranke Menschen kommen verspätet ins Krankenhaus. Einige schwere Erkrankungen werden aufgrund mangelnder Vorsorgeuntersuchungen nicht rechtzeitig erkannt. Offenbar ist die Angst vor einer Infektion in einer Praxis oder im Krankenhaus so groß, dass viele den Gang zum Arzt zu lange hinauszögern, obwohl im Notfall jede Minute zählt."Wir haben bereits Patienten verloren, weil sie zu spät kamen. Das ist eine sehr bittere Erfahrung", sagt Kerber.
Mit jeder Minute, die man bei Symptomen eines Herzinfarktes abwarte und nicht den Notarzt alarmiere, steige das Risiko eines plötzlichen Herztodes oder irreparabler Schäden am Herzen, warnt er. Beide Mediziner appellieren an die Bürger, bei Beschwerden nicht zu zögern und einen Arzt aufzusuchen. "Wir haben hier ein sehr gutes Hygienekonzept, das Infektionsrisiko ist gering", betont der Chefarzt.
Viel Planungsarbeit ist zu leisten
"Die Arbeit ist seit Corona anders geworden", schildert Dr. Daniel Hansch weiter. Das "normale" Arbeiten sei weniger geworden, dafür würden deutlich mehr administrative Aufgaben anfallen. Viel Planungsarbeit sei zu leisten, vieles müsse anders organisiert werden, zahlreiche Konferenzen fänden statt. "Wir haben es mit mehr Unwägbarkeiten zu tun", fügt Sebastian Kerber hinzu. "Das ganze 'Drumherum' ist viel komplizierter geworden."
Damit sei auch die Belastung für das Personal stark gestiegen. Sowohl qualitativ als auch quantitativ. Die Hygiene- und Sicherheitsmaßnahmen, das An- und Ausziehen der Schutzkleidung sowie die Reinigung der Geräte seien sehr aufwendig. Hinzu komme der schwere Umgang mit dem Tod, meint Professor Kerber. "Wir hatten eine Phase, in der wir schwerst erkrankten Patienten trotz maximaler Therapie leider nicht mehr helfen konnten. Jeder einzelne Patient, den man dann 'verliert', bedrückt das gesamte Behandlungsteam. Wenn dann Angehörige von Kollegen erkranken, spürt man, wie nah die Krankheit auch bei uns ist."
Wenig Verständnis für Corona-Leugner
Umso weniger Verständnis haben Kerber und Hansch für Maskenverweigerer oder Corona-Leugner. "Wir arbeiten am Limit und sehen die dramatischen Folgen von Covid-19. Angesichts dessen macht mir eine derartige Haltung sehr zu schaffen", sagt der Oberarzt und sein Chefarzt fügt hinzu: "Die Unvernunft ist nicht nachvollziehbar. Es ist, als würde man ohne Sicherheitsgurt Auto fahren."
"Corona hat uns aufgezeigt, wie persönlich verwundbar wir sind, wie schwierig soziale Isolation sein kann und wie sich die alltäglichen Probleme relativieren, wenn es um das Überleben geht", fasst Professor Sebastian Kerber die aktuelle Situation zusammen. "In den letzten Monaten habe ich mich oft wie auf einer Schiffsbrücke gefühlt, auf der man mit aller Kraft schauen muss, dass man mit dem ganzen Schiff durch den Orkan kommt." Man habe durch Corona auch gemerkt, wie sehr man in der Krise vernetztes Arbeiten benötigt, und dass man viel schaffen kann, wenn man als Team zusammenhält.
Beide Mediziner setzen ihre Hoffnungen auf die Impfungen, damit die zweite Jahreshälfte vielleicht besser verläuft.