Michael Dinkel nimmt kein Blatt vor den Mund. "Am Ende leidet der Patient", sagt er. Der Chefarzt der Klinik für Anästhesie und Intensivmedizin am Rhön-Klinikum Bad Neustadt hat das 16. Notfallmedizinische Forum am Rhön-Klinikum mit circa 600 Teilnehmern organisiert. Er diagnostiziert: "Die Notfallversorgung ist am Ende."
Hauptproblem in Dinkels Augen: Die Nachfrage im Bereich Notfallversorgung steige, das Angebot sinke. Patienten wählen oft auch dann den Notruf, wenn der Hausarzt der richtige Ansprechpartner wäre. Fachkräfte fehlen. Die Situation sei dramatisch. "Wir müssen jetzt etwas ändern oder das System bricht zusammen."
In welchem Rahmen wurde diskutiert?
Nach vier Jahren Corona-Pause fand diesen Samstag erstmals wieder ein Notfallmedizinisches Forum am Rhön-Klinikum Campus Bad Neustadt statt. Rund 600 Teilnehmer aus ganz Deutschland – Ärztinnen und Ärzte, Rettungsdienstmitarbeitende und medizinisches Fachpersonal – informierten sich in Fachvorträgen, Workshops und Fallvorstellungen rund um das Thema Notfallmedizin. An der Podiumsdiskussion "Notfallversorgung am Limit" nahm vonseiten der Politik Sabine Dittmar, Parlamentarische Staatssekretärin beim Bundesminister für Gesundheit, teil.
Weshalb ist die Notfallversorgung am Limit?
Die Schere zwischen der Nachfrage nach rettungsdienstlichen Leistungen und dem Angebot an Vorsorgungskapazitäten geht immer weiter auseinander. "Wir akzeptieren den Trend einer Unterversorgung als Gesellschaft und politisch", warnte Professor Bernd Griewing, Chief Medical Officer und Generalbevollmächtigter des Rhön-Klinikums.
Wie erklärt sich die gestiegene Nachfrage im Bereich Notfallversorgung?
In den vergangenen zehn Jahren sind "Bagatell-Einsätze" laut Intensivmediziner Dinkel um über 30 Prozent angestiegen. Er nehme außerdem eine "gestiegene Anspruchshaltung" vieler Patienten wahr: "Da hat einer seit vier Wochen Rückenprobleme und holt dann Samstagnacht den Rettungsdienst, weil er sich sagt: Ich bin krankenversichert, ich habe einen Anspruch", so Dinkel.
Staatssekretärin Dittmar ergänzte: Der Anstieg in der Notfallversorgung gehe einher mit einem Rückgang der Inanspruchnahme der Leistungen des kassenärztlichen Bereitschaftsdienstes. Viele Patienten wären überfordert mit der Dreigliedrigkeit des Systems - kassenärztlicher Bereitschaftsdienst, stationäre Notaufnahme und Rettungsdienst. "Der Patient weiß oft nicht, wo er sich hinwenden soll". Aus Erfahrung weiß Dittmar: "Die 116117 des Bereitschaftsdienstes ist oft sehr schwer zu erreichen." Hänge der Patient zu lange in der Warteschleife, wähle er am Ende doch die 112.
Wie ist die konkrete Situation am Rhön-Klinikum Bad Neustadt?
"Wir werden mit Patienten zugeschüttet", machte Generalbevollmächtigter Griewing deutlich. Das Rhön-Klinikum leiste viel mehr, als nur das Basis-Einzugsgebiet zu versorgen. Im Jahr 2022, informierte Sandra Henek, Geschäftsführende Direktorin des Rhön-Klinikums, wurden 27.000 Notfallpatienten über die Zentrale Notaufnahme versorgt. Das Campus-Konzept, auf große Standorte mit großen Intensivabteilungen zu setzen, habe sich als richtig erwiesen, so Griewing: "Derzeit bereiten wir uns systematisch darauf vor, dass wir diese zentrale Funktion weiter ausfüllen müssen."
Wie ist der Status Quo in puncto Versorgungskapazitäten und Ressourcen?
In Bayern, informierte Notarzt Dinkel, sind im Durchschnitt fünf bis sechs Prozent aller Notarztschichten nicht besetzt. An manchen Standorten liege die Quote sogar bei 30 Prozent. Die Hilfsfrist des Rettungsdienstes von zwölf Minuten werde nur noch in 78 Prozent der Fälle eingehalten. Es fehle an Notärzten und Rettungsdienstpersonal genauso wie an Betten in der Akutversorgung.
Was ist die Folge?
Patienten müssten mitunter durch ganz Deutschland gefahren werden, gab Dinkel Einblicke in die Notfallversorgung. "Der echte, zeitkritische Patient muss warten, während wir das Nasenbluten versorgen", formulierte es Uwe Kippnich, Koordinator Sicherheitsforschung beim Bayerischen Roten Kreuz.
Weshalb fehlen Fachkräfte?
Neben dem demografischen Wandel nannte Dinkel die fehlende Wertschätzung, aber auch die materielle Vergütung als Grund. Die Lohnstruktur sei völlig heterogen. "Der Notarzt in Thüringen verdient doppelt so viel wie in Bayern." Auch müssten Rahmenbedingungen verändert werden. Mitunter werde ein Notarzt gezwungen, berichtete Dinkel, drei Kilometer entfernt von der Familie auf der Wache zu schlafen, weil dort eben der Standort ist. "Das macht nicht jeder mit."
Was sagt Politiker Sabine Dittmar dazu?
"Fakt ist, wir brauchen veränderte und zusammenführende Strukturen", so Staatssekretärin Sabine Dittmar. Das sei keine neue Erkenntnis in der Politik. Bereits 2019 habe ein Sachverständigengutachten Probleme und Lösungswege aufgezeigt. In Folge wurde ein "guter Referentenentwurf" vorgelegt. Zur Abstimmung sei es aufgrund großer Widerstände aus den Ländern nie gekommen. "Das ist die Krux: Die Rettungsdienste sind in den Ländern angesiedelt und dort nicht im Gesundheits-, sondern im Innenministerium."
Welche Lösungsansätze sind denkbar?
Im Rahmen von Pressekonferenz und Podiumsdiskussion kamen verschiedene Lösungsideen auf. Hier sieben davon:
1. Eine Steigerung der Gesundheitskompetenz in der Bevölkerung: Ziel müsse es sein, die Leute besser zu informieren, so Michael Dinkel. Habe das Kind 38 Grad Fieber oder man selbst einen eingewachsenen Fußnagel, sei das kein Fall für die Notfallversorgung. Staatssekretärin Dittmar, selbst Ärztin, war in diesem Punkt völlig bei ihm: "Aber da einen Wandel herbeizuführen, ist schwierig."
2. Eine adäquate Steuerung durch eine einheitliche Notfallnummer: Der Patient oder die Patientin wählt genau eine Nummer und am Telefon entscheidet ein qualifizierter Disponent, welcher Weg nun der richtige ist, so die Forderung zahlreicher anwesender Ärzte.
3. Einführung von Tele-Notärzten, Gemeindenotfallsanitätern, Hausarzt-Bussen: Durch derartige Konzepte könnten Kranke in der Fläche versorgt, Notärzte entlastet und ziellose Krankenhauseinweisungen verhindert werden, meinte etwa Uwe Kippnich vom BRK.
4. Größere Transparenz der Krankenhäuser: "Warum werden Krankenhäuser nicht verpflichtet, offenzulegen, was sie leisten können und was nicht?", fragte Dinkel. Er denkt beispielsweise an den Herzinfarktpatienten, der wichtige Zeit verliere, weil er zunächst in einer Klinik ohne Linksherzkatheter lande. Ein Ansinnen, das Sabine Dittmar unterstützte: "Über 50 Prozent der Krebspatienten werden nicht in onkologischen Zentren versorgt, obwohl sie dort nachweislich bessere Überlebenschancen haben." Auch Abmeldungen und Engpässe von Kliniken sollten transparent gemacht und retrospektiv aufgearbeitet werden, wünschte sich Michael Mildner, Leiter der Krankenhauskoordinierung in Unterfranken.
5. Ein Interagieren über Grenzen hinweg: Eine bessere Vernetzung über die Landkreisgrenzen forderte Mildner. Just am Tag des Notfallforums seien beispielsweise zwei CTs in Unterfranken wegen geplanter Reparaturen außer Betrieb gewesen: "Warum reden die Kliniken nicht miteinander?"
6. Ressourcenverschwendung abstellen: Auch im System sei noch Luft nach oben, so Dinkel. Er nannte beispielsweise Patienten-Verlegungen, die ärztlich begleitet würden. Dabei könnte das auch oft ein Sanitäter übernehmen. Eine tele-notärztliche Überwachung könne er sich bei solchen Fahrten gut vorstellen.
7. Drohnen als neues Glied der Rettungskette: Über technische Entwicklungen der angeblich nicht allzu fernen Zukunft visionierten Rhön-Klinikums Generalbevollmächtigter Bernd Griewing und Uwe Kippnich vom BRK. Drohnen könnten zum Transport von Medikamenten, im Rahmen von Laboruntersuchungen oder gar zum Patienten-Transport eingesetzt werden.
Was ist vom Gesundheitsministerium geplant?
"Wir versuchen einen neuen Anlauf", so Staatsministerin Sabine Dittmar. Es liege ein Papier vor, das als Arbeitsgrundlage dienen könne. Darüber gehe man mit den Ländern ins Gespräch. Hauptziel sei es, eine integrierte Leitstelle und integrierte Notfallzentren zu etablieren, die mehr leisten sollen als die jetzigen Leitstellen. Eine qualifizierte Person am Telefon nehme eine Ersteinschätzung vor.
Was wünscht sich der Organisator des Forums?
"Warum setzt man das nicht morgen um?", fragte der Chefarzt der Intensivmedizin, Michael Dinkel. "Es scheitert nicht an der Kompetenz, es scheitert an Bund-Länder-Diskussionen", resümierte er.