Sabine Dittmar hat Platz genommen auf der Regierungsbank, im Zentrum der Macht, schräg vorne vor dem Bundesadler, der an der Wand im Berliner Reichstag prangt. Die 57-Jährige aus Maßbach (Lkr. Bad Kissingen) vertritt im Parlament an diesem Tag "ihren" Gesundheitsminister, Karl Lauterbach. Das Bundeskanzleramt erwartet von den Ministerien Präsenz, auch wenn die SPD-Politikerin diesmal gar nicht ans Rednerpult muss.
Denn das halbe Dutzend Anfragen, das Abgeordnete von den Grünen bis zur AfD an das Gesundheitsministerium gerichtet haben - zu Themen von Impfpflicht bis Cannabis-Legalisierung - ruft Bundestagsvizepräsident Wolfgang Kubicki (FDP) nicht mehr auf. Die Fragen an die anderen Ressorts haben die Debattenzeit aufgebraucht, das Gesundheitsministerium wird die Antworten schriftlich fürs Protokoll nachreichen.
Sitzungsdienst im Parlament ist nicht gerade die spannendste Aufgabe, die eine Parlamentarische Staatssekretärin zu erledigen hat. "Aber er gehört zum Amt dazu", betont Sabine Dittmar. Mitte Dezember hat die Ärztin aus Unterfranken eine weitere Stufe der politischen Karriereleiter erklommen. "Ich bin jetzt Teil der Bundesregierung", sagt Dittmar, frei von jeder Überheblichkeit. Zehn Wochen nach Amtsantritt will sie Respekt vor der Aufgabe vermitteln. Als gesundheitspolitische Sprecherin der SPD-Fraktion habe sie vorher zu allem und jedem auch öffentlich ihre ganz persönliche Meinung äußern können, sagt die SPD-Politikerin. "Jetzt gilt es, Stellungnahmen im Hause abzustimmen" - mit Minister Lauterbach, mit der ganzen Ampel-Regierung.
Die aktuellen Themen der Gesundheitspolitik: alle kontrovers
Streit um den Genesenen-Status, Impfpflicht, Pflegebonus, Infektionsschutz: Die aktuellen Themen im Gesundheitsministerium werden allesamt kontrovers diskutiert. Kein Wunder, dass der Reporter, der Dittmar in dieser Parlamentswoche im Gesundheitsministerium begleitet, nur dann auch bei exklusiven Runden mithören darf, wenn er eine "Verschwiegenheitserklärung" unterschreibt und auf die Wiedergabe von Interna verzichtet.
Egal, ob die Gesundheitspolitiker der SPD tagen oder die der gesamten Koalition: Sabine Dittmar überzeugt - das lässt sich sagen - in diesen Runden mit klarer, fachlicher Analyse. Dass sie bei Fragen zum Umgang mit dem Coronavirus - ganz wie der Minister - immer eher dem Team Vorsicht zuneigt, ist kein Geheimnis. "Die Pandemie ist noch nicht vorbei", sagt sie in ihrem weichen Fränkisch, das die Pandemie zur "Bantemie" werden lässt.
Für einen "Freedom Day" schon am 20. März sei es zu früh, sagt Dittmar. Und zumindest die Maskenpflicht und die Testpflicht in Krankenhäusern und Pflegeheimen werde man noch länger brauchen. Das Infektionsschutzgesetz sollte entsprechend fortgeschrieben werden, meint die Staatssekretärin. Die Bundesländer müssten einen "Rahmen" erhalten, um bei regional steigenden Zahlen handlungsfähig zu bleiben.
Dittmar lässt keinen Zweifel, dass sie im Ministerium inhaltlich mitreden möchte. "Frau Staatssekretärin liest die Gesetzestexte selbst", sagt Michael Frank, der Leiter ihres Abgeordnetenbüros und langjähriger Weggefährte. Die Chefin sei eine "Aktenfresserin". Wenn es der politische Druck erfordert - in Corona-Zeiten also ständig - findet Sabine Dittmar auch nachts um eins einen Fehler oder eine Ungenauigkeit auf Seite 17 im Gesetzentwurf. Das schnelle Lesen und Erfassen von Texten habe sie als Ärztin gelernt, sagt Dittmar. "Ich habe Freude an der Detailarbeit. Manche sagen auch, ich sei eine Pedantin." Sie lacht darüber. Und sieht solche Zuschreibungen als Kompliment.
In die ministeriellen Abläufe arbeitet sie sich gerade ein. "Wir sind in der Findungsphase", sagt die Staatssekretärin. Entsprechend provisorisch wirkt die Atmosphäre im fünften Stock des Ministeriums, gleich neben dem Friedrichstadtpalast in Berlin-Mitte. Dittmars Büro mit dem Schreibtisch, großen Monitoren und der Sitzecke in schwarzem Leder ist eher funktional eingerichtet. Die Bilder an der Wand – Tanz- und Feierszenen in schwarzer Tusche – hat sie von ihrer Vorgängerin übernommen. Persönliche Accessoires sind nicht zu entdecken. Lediglich ein kleiner bayerischer Porzellanlöwe auf dem Sideboard fällt auf: ein Antritts-Geschenk von Klaus Holetscheck, dem CSU-Gesundheitsminister aus dem heimischen Freistaat.
Aus dem Bundestag mit ins Ministerium umgezogen ist Ilona Laschütza, Dittmars persönliche Referentin. Bei der 44-jährigen Politikwissenschaftlerin, die aus Oberwildflecken (Lkr. Bad Kissingen) stammt, laufen alle "Vorgänge" auf: Wünsche und Kontaktanfragen von Verbänden im Gesundheitswesen, Einladungen zu Veranstaltungen in der ganzen Republik, vor allem aber all die hausinternen Absprachen - von Antworten auf parlamentarische Anfragen bis hin zu den Gesetzesvorhaben.
"Verwaltungskonformes Arbeiten will gelernt sein", sagt Laschütza zu den Regeln. "Der Minister schreibt seine Anmerkungen auf den internen Dokumenten in Grün, die Parlamentarischen Staatssekretäre nutzen lila, die beamteten Staatssekretäre rot, Referatsleiter schwarz."
Ihre Erfahrung in den ersten Wochen: "Normale Abgeordnete" könnten häufig spontaner auf neue Entwicklungen reagieren. Die Ministerialbürokratie hingegen gehe - unabhängig davon, wer an der Spitze des Hauses stehe - die Aufgaben "deutlich strukturierter und nachhaltiger" an.
Präsenztermin mit Lobbyistin
An diesem Morgen führt Ilona Laschütza Protokoll. Sabine Dittmar hat Ulrike Elsner zu Gast in ihrem Büro. Einer der ganz wenigen Präsenztermine in diesen Tagen. Die Vorstandsvorsitzende des Verbandes der Ersatzkassen ist zum Antrittsbesuch gekommen. Die Atmosphäre ist locker, man kennt sich seit Jahren. "Sabine Dittmar ist eine erfahrene Gesundheitspolitikerin, ihr muss man kein Thema neu erklären", sagt Elsner. Als Lobbyistin für die Interessen der gesetzlich Krankenversicherten finde sie bei der Sozialdemokratin einen "gemeinsamen Resonanzboden" für Themen wie Krankenhaus-Strukturreform, Beitragsstabilität oder das angestrebte Organspende-Register.
Nach 45 Minuten ist der zwanglose Austausch vorüber, Dittmar ist nun im Petitionsausschuss des Bundestags gefordert. Zugeschaltet per Video, muss sie die Position der Regierung zu Themen des Gesundheitswesens beisteuern. Bis zu drei Fachleute aus den zuständigen Abteilungen stehen ihr als "Einflüsterer" zur Seite, egal ob es den Petenten um die Probleme bei der Einführung von elektronischem Rezept und elektronischen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung geht - oder um Behandlungsstrategien gegen das Chronische Fatigue-Syndrom (ME/CFS). Gebraucht werden die Experten diesmal nicht, die Sitzung ist gut vorbereitet. Klagen über vermeintliche Versäumnisse des Gesundheitsministeriums lässt Dittmar routiniert abperlen.
So startete Dittmars Laufbahn als Berufspolitikerin
"Die Arbeit als Staatssekretärin macht Spaß", versichert die 57-Jährige. Dabei hatte es lange gar nicht so ausgesehen, dass die Landärztin aus dem Lauertal in Berlin groß Karriere macht. Schon der Einstieg in die Berufspolitik war nicht wirklich geplant: Dittmar, die aus einer SPD-nahen Familie stammt, war kommunalpolitisch engagiert - als SPD-Ortsvereinsvorsitzende und Gemeinderätin in Maßbach und Kreisrätin in Bad Kissingen.
Dann kam den Sozialdemokraten für die Wahl 2008 plötzlich der intern schon vorgesehene Landtagskandidat abhanden. Kay Blankenburg hatte im März 2008 überraschend die Oberbürgermeister-Wahl in Bad Kissingen gewonnen, die Landkreis-SPD suchte Ersatz für die Landtagswahl - und fragte Sabine Dittmar. "Ich habe ja gesagt, aber - ganz ehrlich - nicht mit dem Einzug ins Parlament gerechnet."
Durch ärztliche Bereitschaftsdienste bekannt in der ganzen Region, bekam Sabine Dittmar seinerzeit über die Unterfranken-Liste der SPD überraschend viele persönliche Stimmen. "Plötzlich war ich Landtagsabgeordnete." Anfangs habe sie noch versucht, zwischen München und Main-Rhön parallel zumindest in Teilzeit als Ärztin weiterzuarbeiten, doch nach zwei Jahren habe sie die Doppelbelastung aus Zeitgründen aufgeben müssen, erzählt die Staatssekretärin. Seitdem ist sie Vollzeit-Politikerin, 2013 folgte der Wechsel vom Landtag in den Bundestag.
Im Sommer 2021 dann schien es wieder zurückzugehen: Die Wahlaussichten der SPD waren schlecht, Dittmars Platz auf der SPD-Landesliste für die Bundestagswahl ebenso. Sie habe bereits Stellenanzeigen gelesen, um nach dem Ausscheiden aus dem Parlament vertretungsweise wieder als Ärztin zu arbeiten, sagt die Maßbacherin. Es kam anders: Mit dem Wahlsieg von Olaf Scholz und der SPD am 26. September war auch Dittmars Wiedereinzug in den Bundestag gesichert.
Im Zuge der Regierungsbildung wurde die Ärztin aus Unterfranken dann sogar schon als neue Gesundheitsministerin gehandelt. Vorgedrängelt für ein Amt hat sie sich nicht. "Sie will allein auf Sachpolitik überzeugen", sagt Michael Frank. Dabei würde er sich von seiner Chefin manchmal ein bisschen mehr Selbstmarketing wünschen - beispielsweise in den sozialen Netzwerken. "Aber Sabine Dittmar kann da ziemlich stur sein."
Ministerin wurde die 57-Jährige nicht, aber Staatssekretärin an der Seite von Karl Lauterbach. "Alles gut mit uns beiden, das passt", kommentiert sie das Miteinander. Auch bei den anderen Parteien kam die SPD-Personalie gut an: Bayerns CSU-Minister Klaus Holetscheck hatte die Berufung der Unterfränkin ins Ministerium ausdrücklich gefordert. "Sabine Dittmar ist genau die Richtige für den Job als Mittlerin zwischen Bundestag und Regierung", lobt auch ihr Würzburger Mediziner-Kollege Andrew Ullmann von der FDP.
Was hat sich verändert in den ersten zehn Wochen als Staatssekretärin? Sabine Dittmar muss überlegen. "Inhaltlich gar nicht so viel." Es sind vor allem die Rahmenbedingungen, die neu sind. Dass die leidenschaftliche Autofahrerin jetzt Anspruch auf einen Dienstwagen mit Fahrer hat, gehört dazu. "Daran muss ich mich erst gewöhnen." Hinzu kommen in Zeiten der aufgeheizten öffentlichen Corona-Debatte die Auflagen der Sicherheitsbehörden: Ob in Berlin oder im Wahlkreis, ihr Büro muss der Polizei jeden Termin, jede Veranstaltung außer Haus melden. Die Beamten entscheiden dann, ob sie für regelmäßige Kontrollgänge eine Streife vorbeischicken oder gar Personenschutz anordnen. "Schade, dass es das braucht", sagt Dittmar, "aber ich bin der Polizei sehr dankbar dafür".
Kirre machen lässt sich die Staatssekretärin von all dem Aufwand, den das neue Amt mit sich bringt, nicht. Am Wochenende wird sie wieder in der Heimat als Impfärztin ehrenamtlich helfen. Der Bundesadler ist dann weit weg.