Die Stühle sind hochgeklappt. Seit Monaten schon stehen sie umgedreht auf den Tischen. Eine Art bizarres Spalier für die Gäste, die seit fast einem halben Jahr nicht kommen dürfen. Thomas Gsell bindet sich die schwarze Schürze um. Wie jeden Tag, aber längst nicht mehr wie immer. Wie es ihm geht? Der Wirt zuckt die Schultern. Mit der Hand zeigt er auf sein Herz, dann durch den Gastraum. "Hier oder hier? Es ist schwierig."
Thomas Gsell ist gelernter Koch, im Oktober 2015 hat er sein Restaurant "Sthoka" eröffnet. Sein erstes Lokal, eigenhändig renoviert, mitten in Karlstadt (Lkr. Main-Spessart). 13 Mitarbeiter hat er heute, drei davon fest angestellt. Normalerweise arbeitet er sechs Tage die Woche, oft bis ein Uhr nachts. Auch jetzt, im Dauerlockdown, ist er jeden Tag da. "Ich brauche das Geregelte", sagt der 44-Jährige. "Ich bin kein Typ, der daheim hockt und nichts macht."
Wirtschaftspsychologe: Arbeitslosigkeit hat oft negativen Einfluss auf die Psyche
Also schiebt er jetzt, am späten Vormittag, die selbst geschreinerte Theke ins Fenster, verkauft Brotzeit. Bratwürste, Schnitzelbrötchen, Suppe. Abends dann warme Gerichte to-go. Es lohne sich nicht wirklich, sagt Gsell. "Man kennt ja seinen durchschnittlichen Umsatz und jetzt sind es vielleicht 250 Euro, die man einnimmt." Zusperren könne er sich aber auch nicht leisten. Der Frust ist greifbar. Und hinterlässt Spuren.
Er schlafe seit dem Lockdown schlecht, sagt Gsell. "Weil ich nicht ausgelastet bin." Aufräumen, Büroarbeit, irgendwas gebe es schon immer zu tun – aber befriedigend sei das nicht. "Ich bin einer, ich sehe lieber das Essen auf dem Teller als in so einer Warmhaltebox." Manchmal kämen da schon die Gedanken ans Hinschmeißen. "Normalerweise, wenn ich abends in der Küche fertig bin und das Restaurant sitzt voll, dann gehe ich von Tisch zu Tisch und unterhalte mich mit den Menschen, frage, ob alles in Ordnung war", sagt Gsell. Jetzt fehlt das Feedback, es kommt nichts zurück. "Aber ich bin jemand, ich brauche das für mein Selbstwertgefühl."
Für viele Menschen gehe es bei der Arbeit nicht nur um eine Tätigkeit zur Existenzsicherung, sondern der Beruf sei mit Freude und Sinngebung verbunden, erklärt der Wirtschaftspsychologe Ulrich Schübel aus Hammelburg (Lkr. Bad Kissingen). Gerade Selbstständige würden sich oft stark über ihre Arbeit definieren. "Sie finden dort Lebensinhalt und ein Stück Selbstverwirklichung", so Schübel, der auch im Vorstand des Berufsverbandes deutscher Psychologen in der Sektion Wirtschaftspsychologie ist. Und: Arbeit strukturiert, den Tag, die Woche, das Jahr. "Das reduziert Unsicherheit."
Gsell: Die Kosten laufen weiter und die Regierung hält einen hin
Was aber macht es mit Menschen, die gerne arbeiten wollen, können, aber nicht dürfen – wie die Gastronomen im Lockdown? Arbeitslosigkeit habe oft einen negativen Einfluss auf die Psyche, sagt Schübel. Das Selbstwertgefühl bekomme einen Knacks. Niedergeschlagenheit, Depressionen oder psychosomatische Beschwerden könnten auftreten. Insgesamt hätten Studien gezeigt, dass "das Risiko, als arbeitslose Person psychisch zu erkranken, mindestens drei Mal höher ist als bei Berufstätigen". Allerdings: Solche negativen Folgen bleiben laut Schübel meist aus, wenn die Betroffenen davon ausgehen, bald wieder arbeiten zu können.
Genau das aber ist aktuell für die Wirte ungewiss. Existenzangst. Unzufriedenheit. Wut. "Die Gedanken kreisen die ganze Zeit im Kopf", gibt Thomas Gsell zu. Hinzu kommt: Er wird Vater, "das macht es noch schwieriger". Aufgeben gehe nicht. Nur: Wie lange lässt sich das alles finanziell stemmen? "Die Kosten laufen weiter und die Regierung hält einen hin – zwei Wochen, dann wieder zwei Wochen, dann wieder. Das zermürbt."
Zahlreiche Gastronomen sind auf finanzielle Hilfe angewiesen
So wie Gsell geht es den meisten seiner Kollegen. Der 44-Jährige ist Sprecher der Wirte in Karlstadt. "Im Endeffekt sitzen alle in einem Boot", sagt er. Ein Restaurant habe bereits Ende Dezember schließen müssen, die anderen kämpften sich durch. "Frust gibt es bei vielen." Vergangenes Jahr im Sommer hat er mit seinem Restaurant noch bei der Kabel1-Doku-Soap "Mein Lokal, Dein Lokal" mitgemacht. Für den Sieg gereicht hat es damals nicht, aber "wir haben ein paar Gäste dazugewonnen". Jetzt ist Gsell auf staatliche Hilfen angewiesen.
Es klopft. Ein Mann steht vor dem Brotzeitfenster. "Gibt’s schon Bratwürste?" Thomas Gsell springt auf. "Klar, mit Senf?" Den Ärger merkt man ihm nicht an. Als der Kunde weiterzieht, sagt Gsell: "Mir fehlt die Arbeit. Sehr." Manchmal gehe das mittlerweile an die Substanz. Vor allem das ständige Warten, die Abhängigkeit von der Politik, das Bangen, dass es endlich heißt: ihr dürft wieder loslegen.
Eine Perspektive, die Hoffnung schafft, ist unerlässlich
"In der Psychologie gibt es das Phänomen der erlernten Hilflosigkeit", beschreibt der Wirtschaftspsychologe Ulrich Schübel. Menschen erlebten dabei, dass es immer negative Folgen habe, egal welche Handlungsoptionen sie wählten – oder auch, dass sie gar nicht handeln könnten und deshalb hilflos seien. Betroffene würden so in eine Art "psychische Starre" fallen, so Schübel. Dauere diese lange an, könne sie eine psychische Erkrankung auslösen. "Eine Perspektive, die Hoffnung schafft, ist deshalb für Menschen in einer herausfordernden Situation unerlässlich", sagt Schübel. Nur so könne man durchhalten.
Würde für die Gastronomie eine solche Perspektive genannt, könnte es laut Thomas Gsell schnell gehen. Etwa zwei Tage Vorlauf bräuchte er nur. "Wir haben eine WhatsApp-Gruppe und wenn wir morgen wieder öffnen dürfen, dann sind alle wieder dabei."In Kurzarbeit sei keiner aus seinem Team, die Teilzeitkräfte hätten zum Glück noch einen Job nebenbei, die Festangestellten unterstützen ihn beim Straßenverkauf.
Hygienekonzepte für eine Öffnung der Gastronomie gibt es
Und auch mit Blick auf die Hygieneregeln sei das Öffnen kein Problem. Das habe schon nach dem ersten Lockdown gut funktioniert, sagt Gsell. "Man nimmt es in Kauf, jede Woche zehn Liter Desinfektionsmittel zu besorgen – Hauptsache das Geschäft geht wieder." Ein Datum dafür aber gibt es bisher nicht. Das verstehe er nicht, so Gsell. "Wenn ich in den Supermarkt gehe, stehen 30 Leute an vier Kassen auf engstem Raum – warum darf dann hier keiner rein?"
Der Wirt schüttelt den Kopf. "Es geht einfach darum, dass die Tische und Stühle wieder belegt sind, dass wir wieder eine Aufgabe haben." Mittlerweile gehe er "jeden zweiten Tag in die Kirche und zünde eine Kerze an". Früher, vor Corona, habe er das nie gemacht. "Man versucht einfach, den Glauben an das Gute nicht zu verlieren."
Klar gibt es viele kreative Konzepte von Wirten bezüglich ToGo Verkauf usw. aber das ersetzt doch nicht das „normale“ Tagesgeschäft.
Da fehlt Trubel, Geselligkeit und ein Großteil des Geschäfts wird doch mit Getränken gemacht.... das kann man mit Mitnahme Speisen gar nicht kompensieren - egal wie kreativ das erdachte Konzept ist.
Mir tun alle leid, deren Existenz so gefährdet und ungewiss ist.
Wir sind alle mürbe und Corona leid, aber die deren Existenz bedroht ist, haben dich noch viel mehr zu kämpfen.
Unzählige Branchen liegen seit März 2020 alternativlos brach...