Keine Frage: Corona belastet alle. Lockdown, Lockerung, erneuter Lockdown, keine Kontakte, soziale Distanz, Angst um den Arbeitsplatz, Sorge um Angehörige und natürlich die Furcht davor, selbst zu erkranken: Seit einem Jahr ist die Pandemie Alltag. Welche Auswirkungen aber wird Corona wohl langfristig auf die psychische Gesundheit haben? Diese Frage untersucht der Würzburger Psychologe Professor Paul Pauli mit Kollegen in einem Forschungsprojekt. Im Gespräch erklärt er, welche Ergebnisse er erwartet - und wie Angst und Panikstörungen entstehen.
Prof. Paul Pauli: Wir haben Daten von großen Stichproben, die wir deutlich vor und während der ersten Corona-Welle erhoben haben. Durch eine Förderung der VW-Stiftung haben wir jetzt die Möglichkeit, diese Personen in ihrem Verlauf, also über die Zeit weiterverfolgen zu können. Die Frage ist: Was verändert sich bei ihnen aufgrund der Corona-Erfahrung. Was ganz wichtig und das große Glück ist: Wir haben mehr als 2000 Personen relativ genau psychologisch untersucht, bevor es Corona überhaupt gab. Wir können also untersuchen: Wer sind diejenigen, die diese psychische Belastung relativ gut überstehen? Wer sind die, die die soziale Distanz, das Eingeschränkt-Sein schlechter überstehen. Das sind unsere Hauptfragen.
Pauli: Genau, wir haben die Erlaubnis, sie noch einmal zu kontaktieren und weiter zu untersuchen. Das macht es so einmalig. Wir hatten schon genau untersucht: Wer ist ängstlicher? Wer neigt mehr zu Depression? Wer hatte traumatische Erlebnisse in der Kindheit. Jetzt gehen alle durch diese Corona-Zeit durch – und wir können schauen: Wie sind die Veränderungen durch Corona? Kann man Vorhersagen machen, wer psychisch gesund bleibt und wer psychische Probleme entwickelt?
Pauli: Natürlich, dass die Pandemie und die damit einhergehenden Konsequenzen für uns eine Belastung sind. Dass ein Großteil sich belastet und schlecht fühlt, aber dies bei den meisten nicht in Richtung einer psychischen Erkrankung geht. Ich will das aber nicht kleinreden, Corona ist eine Belastung, und es wird eine Gruppe geben, die infolge der Pandemie eine psychische Krankheit entwickelt. Diese Menschen haben vermutlich eine Disposition: Kann sein, dass sie besonders vulnerabel sind, weil sie vorher schon sehr stark belastet waren oder ein traumatisches Erlebnis durchgemacht haben oder dass sie wenig soziale Unterstützung hatten oder haben. Um diese Risikogruppe müssen wir uns ganz besonders kümmern, sie müssen wir rechtzeitig auffangen.
Pauli: Die einfachste Möglichkeit: Sie nicht allein zu lassen, ihnen die Unterstützung zu geben, die sie brauchen. Sie müssen wissen: Da sind Ansprechpartner, an die du dich wenden kannst, wenn es dir schlecht geht. Du kannst dich an jemand wenden, wenn deine Angst so stark wird, dass du sie nicht mehr bewältigen kannst. Wir wissen: Wenn man gleich am Beginn der Entwicklung einer psychischen Störung eingreift, kann man sie auffangen, damit sie nicht chronisch wird. Rechtzeitige niederschwellige Angebote sind wichtig: angefangen von Telefonberatung bis Hilfe übers Internet bis hin zu einer tatsächlichen Psychotherapie.
Pauli: Angst ist, wie man so schön sagt, eine Grundemotion. Eine Emotion, die jeder Mensch kulturunabhängig erleben kann. Was bedeutet, dass sie eine besondere biologische Funktion hat. Angst signalisiert, dass eine Gefahr droht. Und sie bereitet mich darauf vor, diese Bedrohung zu bewältigen. Deswegen ist uns das Gefühl erst einmal unangenehm und negativ und es geht mit körperlicher Erregung einher. Also eine sehr, sehr sinnvolle Reaktion. Das entscheidende ist, dass bei einem lernenden Organismus diese Angst nicht erst entsteht, wenn die Bedrohung tatsächlich da ist. Sondern auch, wenn ich diese Bedrohung erwarte. Die Angst signalisiert dann: Sei besonders vorsichtig, hier könnte eine Bedrohung sein.
Pauli: Was passieren kann: Dass sich diese Angst immer mehr von der tatsächlichen Bedrohung löst und in Situationen entsteht, in denen man denkt, da könnte eine Bedrohung sein. Wenn einen diese Angst dann im Leben so stark einschränkt, dass man viele Dinge gar nicht mehr macht und darunter auch leidet, sprechen wir von einer Angststörung. Angst ist wichtig und eine sehr sinnvolle Reaktion, wir wollen keine angstfreien Menschen. Der Angst nachzugeben, ist erst einmal sinnvoll. Aber wenn die Angst anhält und die Überhand gewinnt, obwohl die Bedrohung gar nicht oder nicht mehr da ist, kann es zur Pathologie kommen.
Pauli: Was bei Corona noch dazu kommt und das Ganze problematischer macht: Das Virus ist etwas sehr diffuses, die Gefahr ist vielschichtig, der Feind ist für uns nicht sichtbar. Das bedeutet auch, dass wir uns selten wirklich sicher fühlen können, selten entspannen können. Das macht es aus psychologischer Sicht so schlimm. Wir sehen die Gefahr nicht – selbst wenn wir zuhause sind und die Türe zumachen, können wir uns nicht wirklich ganz sicher fühlen. Die Belastung ist dauerhaft.
Pauli: Eigentlich nicht. Natürlich werden die Belastungen uns eine Weile nachhängen. Aber ich glaube, dass der Mensch doch sehr schnell und gerne in seinen bisherigen Alltagsrhythmus, in seine Gewohnheiten zurückfällt. Für den Großteil der Menschen wird sich die Situation hoffentlich schnell entspannen und auch das Sicherheitsgefühl und Vertrauen wird zurückkommen. Der Mensch neigt ja – zum Glück – auch ein wenig zum Optimismus. Leider wird es aber auch Menschen geben, für die das nicht ganz so einfach sein wird, eventuell steigt die Häufigkeit psychischer Erkrankungen um ein, zwei oder auch drei Prozent. Um die Personen müssen wir uns kümmern. –
Pauli: Ganz grundsätzlich: Es wäre nicht sinnvoll, wenn alle Menschen gleich reagieren. Es ist wichtig, dass unser Verhalten einen gewissen Spielraum hat. Es ist bei Corona wohl nichts anderes: Es gibt Menschen, die mehr auf der sicheren Seite stehen. Und die, die trotz der Angst etwas ignorieren und riskieren. Das ist eine Art Normalverteilung. Es gibt einfach Menschen, die weniger ängstlich sind.
Pauli: Es gibt bestimmt eine Art Disposition, Veranlagung zur Ängstlichkeit. Aber der größere Anteil ist wohl durch meine eigene Erfahrung geprägt. Wie haben mir es meine Eltern vorgelebt? Wie bin ich in der Schule informiert worden? Wie haben sich Menschen aus meinem näheren Umfeld verhalten? Da werden Verhaltensmuster übernommen.
Pauli: Was sicher ist: Panikstörungen mit Panikattacken sind das, worunter Betroffene am massivsten leiden. Weil die Panik mit extremer Angst einhergeht - bis hin zu der Angst, jetzt zu sterben. Und sie geht einher mit starken körperlichen Veränderungen: mit einem Gefühl der Atemnot, starkem Herzschlag, starkem Schweißausbruch. Und das Ganze „explodiert“ innerhalb kürzester Zeit. Innerhalb von zwei Minuten entsteht diese extreme, existentielle Angst, vergleichbar mit einem Gefühl des Erstickens. Viele rufen dann den Notarzt. Aber außer einem beschleunigten Puls und vielleicht einem leicht erhöhten Blutdruck ist körperlich alles ganz normal.
Pauli: Körperliche Belastung ist nicht untypisch. Vielleicht gab es anfänglich etwas Körperliches. Man war besonders gestresst, hat vielleicht zwei, drei Tage schlecht geschlafen, vielleicht zu viel Kaffee getrunken und zu viel geraucht. Der Körper war also belastet – und dann kommt etwas dazu, man spürt sein Herz und bekommt Angst. Und diese Angst beschleunigt den Herzschlag weiter – dann eskaliert es bis zur Panikattacke. Das Problem ist dann die Angst vor der Angst. Die Angst verselbständigt sich.
Pauli: Das eine ist die Statistik. Die besagt, dass Frauen ungefähr zwei bis drei Mal häufiger betroffen sind als Männer. Das Zweite ist: Viele Menschen haben so eine Panikattacke irgendwann einmal. Ungefähr 30 Prozent der Bevölkerung erleben so einen Moment einmal. Aber deswegen entwickeln sie noch keine Panikstörung. Es wiederholt sich nicht und sie verändern ihr Verhalten nicht aus Angst vor weiteren Panikattacken, beginnen zum Beispiel also nicht, Treppen oder Sport aus Angst vor der Belastung zu vermeiden. Es gibt einen nicht zu unterschätzenden Anteil in der Bevölkerung, die Panik einmal erleben. Aber bei den wenigsten wird es zur Krankheit.
Pauli: Das entscheidende ist: Die meisten Betroffenen verändern ihr Verhalten dramatisch. Sie vermeiden vermeintlich bedrohliche Situationen ganz exzessiv. Das ist die Falle, in die man kommt: Dass man nie überprüft, ob es stimmt, was ich befürchte. Und dass man sein Leben immer stärker einschränkt. Der Schritt einer Psychotherapie wäre also, mit dem Betroffenen genau das zu bearbeiten. Was sind die Auslöser-Situationen? Was erwartest du, was passiert? Man muss klar machen: Die Angst kann entstehen durch die eigenen Gedanken. Es geht darum, so eine Situation zu erzeugen. Dass der Betroffene sagt: Okay, ich will es jetzt wissen – passiert es oder passiert es nicht? Die Situation zu bewältigen, ist dann für die meisten Patienten ein tolles Erlebnis.
Pauli: Nein, das ist ein lebenslanger Prozess. Es ist schwer vorstellbar. Aber wenn man einmal diese massive Angst hatte – die vergisst man nicht.
Pauli: Man muss differenzieren: Was ist eine sinnvolle Angst und was eine krankhafte? Angst ist keine Krankheit! Die meisten haben jetzt eine sinnvolle Angst: Man will sich selber schützen. Diese Angst wird auch wieder vergehen und den Umgang miteinander nicht langfristig belasten.
Pauli: Das ist das große Rätsel. Es ist schwer vorherzusagen. Die einen erleben extrem Fürchterliches und entwickeln keine Angststörung. Bei den anderen führt weniger Schlimmes zu einer Störung. Wenn wir wüssten, was die Ursache ist, was die Weiche stellt, könnten wir sie schützen. Vollständig ergründen werden wir das wohl nie.