Schwarzer Mantel und Gummistiefel: So kam Bundeskanzler Scholz, um die Hochwasser-Katastrophe zu sehen. Wie aber kommen mit den schwierigen Umständen die Personen zurecht, die darüber berichten? Eine Journalistin erklärt es: Ihr schwappen Wasserwellen in die Schuhe während in ihrem eigenen Keller die Pumpen laufen und sie im Schlauchboot die Redaktion erreicht. Sollten die Leserinnen und Leser im Notstandsgebiet auch das erfahren? Dafür gibt es Argumente, ebenso dagegen.
Der Informationsauftrag tritt nicht hinter das eigene Schicksal zurück
Isabel Ammer vom Donaukurier aus Schrobenhausen berichtet auf diese Weise nur im kritischen Branchendienst "Übermedien". Sie titelt am 6.6.: "Abwechselnd Sandsäcke und Live-Ticker befüllen". Damit lässt sie eine ungewöhnliche Herausforderung erkennen: Ein Bild von der Katastrophe für die Leserschaft vermitteln und das trotz eigener Betroffenheit. Es galt für sie, mit beidem fertig zu werden. Journalistisch ist das gelungen. In Ammers Schilderung fließen Beruf und Betroffenheit ineinander. Ihr Informationsauftrag tritt dabei nicht hinter dem eigenen Schicksal zurück. Darin kann man ein Plus sehen.
Die Journalistin bekennt redaktionelle Bedingungen
Ammer sieht keinesfalls an den Nöten Betroffener und den Leistungen der Helferinnen und Helfer vorbei. Aber sie bekennt sehr offen redaktionelle Bedingungen, unter denen sie das tut: "Im Normalfall hat am Wochenende ein Redakteur Dienst, heute bin ich das. Vier, fünf zu befüllende Seiten sind Standard im Lokalteil am Montag, oft sind freie Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Einsatz. Sie liefern Texte zu, wir layouten, redigieren und berichten über einen, höchstens zwei wichtige Termine selbst. Mehr gehe bei den Aufgaben am Sonntag nicht." Das galt offenkundig so auch während das Hochwasser in Stadt und Dörfer eingedrungen ist. Auch das Leserinnen und Leser wissen zu lassen, unterstützt Medienkompetenz.
Die "eierlegende Wollmilchsau"
Ammer bezeichnet sich als "die berühmte eierlegende Wollmilchsau". Sie pendelt während des Hochwassers also zwischen ihrem Keller und der Arbeit. Sie erklärt, wie Menschen verzweifelt Sandsäcke und Schotter in die Stadttore schaufeln, gegen die das Wasser schwappt. Eine Frau fragt sie, was das für ihre Wohnung bedeute, dass die Kanäle überlaufen? Sie weiß es nicht, will aber gleich noch bei der Feuerwehr nachfragen und darüber berichten. Die Lokaljournalistin weiß, mit wem sie reden muss.
Es geht um ehrliche Selbstreflexion unter schwierigen Umständen
Die Auswahl dieser Reportagesplitter soll viele starke Berichterstattungen dieser und anderer Zeitungen nicht zurücksetzen. Auch sie haben Schicksale dargestellt. Aber vorliegend geht es eben auch um Selbstreflexion unter schwierigen Umständen.
Die Autorin lässt zu, dass dadurch Schwachstellen auszumachen sind. Das ist wichtig und ehrlich, denn es steht damit für Glaubwürdigkeit. Ein Journalistenpreis zeichnet derartige Vertrauen bildende Beiträge aus: der MedienSpiegel. Dafür habe ich Ammer vorgeschlagen.
Durchschaubarkeit kann auch im Alltag hergestellt werden
Seriöser Journalismus braucht in Zeiten, in denen das Publikum mit unüberprüfbaren Informationen aus zahllosen Quellen überschwemmt wird, eine Menge Transparenz als Unterscheidungsmerkmal. Werte, für die er steht, muss er ebenso erkennen lassen, wie eigene Schwächen. Er darf sich dabei freilich nicht selbst in den Mittelpunkt zu stellen. Aber der Journalismus sollte freiwillig Rechenschaft darüber ablegen, wie er mit den Privilegien und Freiheiten umgeht, die ihm das Grundgesetz mitgegeben hat. Gerade in realen Fällen unterstützt das Nachrichten-Kompetenz. Aber es bedarf keiner Katastrophe. Durchschaubarkeit kann auch im Alltag hergestellt werden.
Zur Frage nach dem richtigen Publikum
Die angesprochene Reportage war nicht im Donaukurier für die lokale Leserschaft veröffentlicht. Es ist zu respektieren, wenn Isabel Ammer glaubt, die Menschen, die zum Teil im Hochwasser ihr ganzes Hab und Gut verloren haben, interessiere gerade anderes in ihrer Zeitung als die Lokaljournalistin, die ihre Arbeit beschreibt.
Ammer: "Im Lokalteil hätte ich mit dieser Geschichte auch das Gefühl, mich selbst zu sehr in den Vordergrund zu drängen im Hinblick auf all die Ehrenamtlichen von Feuerwehr, Rotem Kreuz, THW und vielen mehr, die nächtelang im Dauereinsatz waren und die noch viel mehr zu erzählen haben." Der Beitrag sei für Übermedien gedacht. So erreiche er genau das richtige Publikum. Auch aus Schrobenhausen und dem Donaukurier-Gebiet, aber nicht nur.
Ich meine, der Beitrag einer Lokaljournalistin wäre mit dieser ihrer empathischen Anmerkung auch vor Ort nachzureichen. Doch urteilen Sie selbst.
Anton Sahlender, Leseranwalt. Siehe auch Vereinigung der Medien-Ombudsleute e.V.
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