Sensibilität brauchen Redaktionen, gerade wenn es um die Berichterstattung über Gewalttaten geht. Das unterstreichen Bewertungen, die ich Übermedien (ÜM) entnommen habe. Die medienkritische Redaktion, die landesweit aktiv ist, hat sich mit der Berichterstattung einer Regionalzeitung aus Nordrhein-Westfalen über eine Gewalttat auseinandergesetzt. Die Darstellung einiger ihrer Kritikpunkte greife ich auf, weil daraus Lehren gezogen werden können.
Was Journalisten fragen könnten
Für ÜM kommt Lisa Kräher unter dem Titel "Täterprofilneurose" am 4. Juli zur Sache: "Seit Mitte Juni wurde eine 17-Jährige (...) vermisst. Vergangene Woche wurde ihre Leiche gefunden. In Verdacht, die Tat begangen zu haben: ihr Ex-Freund." Nun könnten Journalisten fragen, so empfiehlt es Kräher, warum passiert es so oft, dass ein Mann die Partnerin oder seine Ex tötet und was kann man dagegen tun? Oder wo bekommen Eltern, die ihre Tochter verloren haben, Unterstützung?
Ferndiagnosen für das Innenleben von Tätern
Anders frage die Redaktion der Zeitung, heißt es in ÜM. Die habe von einem Psychologen wissen wollen, was in dem mutmaßlichen Täter vorgegangen ist. Dazu Kräher: Es sei fast ein Klassiker von Experten und Expertinnen das Innenleben und die Motive von Tätern deuten zu lassen – und das als "Ferndiagnosen". Ein Eindruck, den auch ich schon gewonnen habe. Scheinbar, so folgert die ÜM-Journalistin, wollten manche Berichterstatter die Taten irgendwie nachvollziehbar machen. Ein gefährlicher Schein, füge ich hinzu. Zumal der trügerisch sein kann.
Der Eindruck, der entstehen könnte
Ich gebe hier nur einige weitere Beurteilungen aus Übermedien wieder: Der Psychologe spreche im Video-Interview von "massiver Kränkung" und "Gesichtsverlust" des Mannes, der womöglich nie gelernt habe, mit seinen Emotionen zurechtzukommen. Töten könnte für ihn "Konfliktbewältigung" sein, es handele sich um eine "klassische Beziehungstat". Da wundere es nicht, wenn dadurch der Eindruck entstehen könnte: "Sie hat ihn gekränkt und er kann nicht mit Emotionen umgehen. Was für ein tragisches 'Beziehungsdrama'!" Alles Begriffe, das meine ich, die sich auch für eine falsche Rechtfertigung eignen und dazu, den Täter in die Opferrolle zu bringen.
Einen Aspekt, der in ähnlichen Fällen oft nicht so zur Sprache komme, nenne der Psychologe: den Besitzanspruch eines Täters. "Wenn ich dich nicht haben kann, dann töte ich dich." Das, was dieser Experte sage, so das Urteil in ÜM, wirke zum großen Teil verharmlosend.
Die irreführende Frage
Und Kräher legt ihre Hand noch in eine redaktionelle Wunde: Weil das Thema ja gut geklickt werde, habe die Zeitung über die Woche noch mehr davon gebracht – auch wenn es eigentlich nicht viel zu berichten gegeben habe. Als von der Staatsanwaltschaft keine neuen Erkenntnisse kamen, habe dann ein Redakteur das Haus des Verdächtigen aufgesucht. Im Teaser (Anreißer) seines Beitrages, werde wieder nach dem mutmaßlichen Täter gefragt: "Wer war er?" Was irreführend ist. Denn der Mann lebe ja noch, im Gegensatz zur Ex-Freundin. Ganz abgesehen davon, dass die Frage auch durch weitere untaugliche Hinweise nicht beantwortet werden konnte.
Eine respektlose Formulierung
Der Text wiederhole, dass das Opfer angezündet wurde. Und er stelle fest: Der Versuch, Spuren zu verwischen, sei nicht von Erfolg gekrönt gewesen. Dass das mehr als respektlos formuliert ist, bestätige ich der Kollegin Kräher von ÜM. Wie das bei Familie des Opfers ankommt, fragt sie zurecht. Und ich sage: Es ist in einem Rechtsstaat niemals als Erfolg zu bekrönen, wenn es einem Mörder gelingt, seine Spuren zu verwischen. Das gilt auch für den Sprachgebrauch.
Wenn es um die Psyche von Tätern gehen muss
Mein Fazit: Für Richter im Rahmen der Urteilsfindung und dann auch für Journalisten ist es oft ein Muss, sich mit der Psyche von Tätern auseinanderzusetzen. Heißt es doch auch in Richtlinie 8 des Pressekodex: "Liegen konkrete Anhaltspunkte für eine Schuldunfähigkeit des Verdächtigen oder Täters vor, soll auf eine identifizierende Berichterstattung verzichtet werden." Meistens ist Kriminalpsychologie gefragt, wenn der Verdacht besteht, dass ein Angeklagter seine geistigen Fähigkeiten vermindert hat. So ist es in der Internet-Enzyklopädie "Netinbag" zu lesen. Das wird derzeit in der Verhandlung über die Würzburger Messerattacke deutlich. Da ist sensible Gewichtung in der Berichterstattung erforderlich. Der kritische Beitrag in Übermedien zeigt aber eine journalistische Unwucht auf. Die geht zu Lasten der Opfer. Doch Vorsicht, das kann nicht automatisch bei jeder Täterbeurteilung unterstellt werden: Jeder Fall und jeder Bericht ist neu zu bewerten.
Lernen können alle
Eine Stellungnahme der Regionalzeitung fehlt auch hier. Von Übermedien wurde sie vor der Rezension ihres Berichtes nicht angefragt. Ich habe per E-Mail bei der betroffenen Zeitungsredaktion um eine Reaktion gebeten, bin aber bislang ohne Antwort. Weil mir somit hier nur Übermedien als Quelle bleibt und es alleine um die Sache gehen soll, nenne ich die Zeitung nicht. Lernen können daraus ohnehin alle.
Anton Sahlender, Leseranwalt.
Siehe auch Vereinigung der Medien-Ombudsleute e.V.
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