Polizeimeldungen und ihr "copy-paste"-Abdruck in Lokalzeitungen seien problematisch, schreibt mir ein Leser bei Twitter. Er erkennt darin oft eine „reine Windschutzscheiben-Perspektive“ und eine „Täter-Opfer-Umkehr“ – und das auch in den Berichten dieser Redaktion. Sein Vorwurf im Klartext: In Unfallmeldungen, abgeschrieben aus Polizeiberichten, dominiere die Sicht von Autofahrern gegenüber der von Fußgängern oder Radlern.
Das ist leider in vielen Fällen richtig und könnte Folgen haben, glaubt man Dirk von Schneidemesser, Mitarbeiter im Institut für transformative Nachhaltigkeitsforschung in Potsdam (IASS). Er fordert generell eine neue Sprache für die Verkehrsberichterstattung. Die Wortwahl in Polizeimeldungen und Zeitungsartikeln halte die Schuld häufig von Autofahrern und Autofahrerinnen fern. Das, so Schneidewind, präge das Bewusstsein und behindere eine Mobilitätswende. Doch dazu später.
Sprachliche Schicksale von Radlern und Fußgängern
Selbst Fahrzeugführer, die einen Radler angefahren und dabei verletzt haben, würden in den Meldungen entschuldigt, weil sie ihn nur „übersehen haben“, „von tief stehender Sonne geblendet“ waren oder „nicht rechtzeitig bremsen“ konnten. Das seien Entschuldigungen, schreiben mir Kritiker im Socialmedia-Kanal Twitter. Denn die Leute am Steuer mit ihren Autos hätten die Fußgänger oder Radler tatsächlich doch „umgefahren“ und „verletzt“.
Zugegeben, in einer Reihe von Meldungen dieser Redaktion hat Fußgänger oder Radler schon ein solches Schicksal auch noch sprachlich ereilt. Allerdings, selbst wenn eine Schilderung aus einer Windschutzscheiben-Perspektive vorgelegen hat, gab es keine Schuldverschiebung. Zunehmende Kritik erfordert es, sich genauer zu betrachten, wo und wie Polizeimeldungen entstehen.
Unfall-Protokoll ist Grundlage der Polizeimeldung
Eine Polizeimeldung entsteht direkt am Unfallort, wo die Versorgung Verletzter Vorrang hat. Dort protokolliert eine Beamtin oder ein Beamter das Geschehen in einfachen Worten. Die werden zur Grundlage der Polizeimeldung. Sachlichkeit sei dabei erwünscht, sagt man mir bei der Pressestelle der unterfränkischen Polizei.
So wird wohl immer wieder auf feststehende Begriffe zurückgegriffen. Das Polizei-Vokabular lebt ohne literarisch differenzierte Feinheiten. Dafür wäre wohl keine Zeit. Man bedient sich pflichtgemäß auch bei Aussagen von Zeugen und Beteiligten. Kann schon sein, dass dann nach dem Blickwinkel eines Radlers oder Fußgängers nach einer Kollision nicht mehr gefragt werden kann, weil der schon auf dem Weg in die Klinik ist. Da bleibt vielfach nur die „Windschutzscheiben-Perspektive“.
Aus den Unfallprotokollen formulieren Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Pressestelle für die unterfränkische Polizei die Mitteilungen an die Medien, die auf der Homepage der Polizei ebenfalls zu lesen sind. Auf Anfrage in der Pressestelle versichert mir Oberkommissar Björn Schmitt, Grundsätze für Pressemitteilungen seien Sachlichkeit und Neutralität. Er betont, dass Polizeimitteilungen stets „den Stand der Ermittlungen“ zu einem sehr frühen Zeitpunkt beschreiben.
Bedeutsame Quellenklarheit
Eine Schwierigkeit bei der Bewertung von Texten liegt gewiss auch darin, dass Wörter für unterschiedliche Menschen nicht die genau gleichen Botschaften in sich tragen. Nehmen wir das Verb „übersehen“. Das entschuldige doch nichts, meint Schmitt im Gegensatz zu den Sprachkritikern, die darin mindestens eine Verharmlosung sehen. Wenn von also von „übersehen“ oder von „tief stehender Sonne“ die Rede sei, dann werde es in der Möglichkeitsform eingesetzt („übersah wahrscheinlich“). Habe sich jedoch ein Autofahrer mit diesen Worten gerechtfertigt, werde das hinzugefügt. Diese Quellenklarheit ist journalistisch bedeutsam und sollte in Zeitungsberichten nie verloren gehen.
Die privilegierte Quelle
In Lokalredaktionen werden Meldungen von leichten Unfällen möglichst ohne Aufwand, also ohne eigene Recherche, digital und gedruckt möglichst schnell veröffentlicht. Landläufig könnte man sagen, sie werden weitgehend von der Polizei abgeschrieben. Bei dieser Arbeitsersparnis beruft man sich auf die Rechtsprechung. Die bewertet die Polizei als privilegierte Quelle. Das heißt, ihr darf vertraut werden. Ganz abgesehen davon, ist die Redaktion auf sie angewiesen, weil man selbst meist nicht am Unfallort gewesen ist.
Die Privilegierung ihrer Quelle entbindet Redaktionen natürlich nicht von ihrer Sorgfaltspflicht. Sie müssen auch für Meldungen geradestehen können, die sie von der Polizei übernommen haben. Vertrauen ist gut, aber die Kontrollfunktion der Medien darf auch gegenüber der Polizei nicht vernachlässigt werden. Deren Verantwortliche können von Journalisten und Journalistinnen auch zu Auskünften verpflichtet werden, die über offizielle Pressemitteilungen hinausgehen.
Radfahrerin wurde "touchiert"
Polizeimeldungen, das ist festzuhalten, beschreiben noch keine unumstößlichen Tatsachen. Auch sprachlich haben sie oft Luft nach oben. Zu dieser Realität muss man stehen. Die bleibt auch der Leserschaft nicht verborgen. Realität sei an einem Satz aus einer Meldung vom 27. April 2021 dargestellt: „Eine Radfahrerin wurde von einem Kleinwagen überholt. Dabei touchierte der Wagen die Radfahrerin, worauf diese stürzte, berichtet die Polizei.“ Ein Kritiker dazu: „Touchiert" sei verharmlosend. "Es suggeriert eine sanfte Berührung wo tatsächlich jemand umgefahren wurde." Der Mindestabstand müsse unterschritten sein, sonst hätte er sie ja nicht "touchiert".
Hier gebe ich zu bedenken: Radler können auch stürzen, wenn sie von einem Fahrzeug nur touchiert werden. Und dass der Mindestabstand nicht eingehalten wurde, ist eine Schuldzuweisung, welche die Redaktion sich nicht erlauben kann, auch dann nicht, wenn sie scheinbar auf der Hand liegt. Kein eigener Mitarbeiter war vor Ort. Man kennt den genauen Hergang des Falles nicht. Das macht es problematisch, eine Polizeimeldung zu verändern. Deshalb erinnere ich an den frühen Stand der Ermittlungen, der in der Meldung zum Ausdruck kommt.
Warnung vor Vorverurteilung
Durchaus berechtigte Kritiken an der Sprache von Polizeimeldungen kommen nicht nur bei der Main-Post an, das zeigt ein Beitrag des Berliner Tagesspiegels. Unter der Überschrift „Konnte nicht mehr bremsen“ – wie Polizeimeldungen Autounfälle verharmlosen“ ist zu lesen, wie auch der Polizeisprecher der Hauptstadt warnt, dass ein „missachteter Vorrang“ womöglich als Vorsatz aufgefasst werden könne. Das wäre in den meisten Fällen nicht nur neben der Wahrheit, sondern auch juristisch heikel, weil es als Vorverurteilung verstanden werden könnte. Schließlich entstünden Polizeimitteilungen meist am Anfang eines Strafermittlungsverfahrens – und basierten auf den Berichten der Beamten, die von vielen Unfallverursachern ein verzweifeltes „Ich habe ihn/sie einfach nicht gesehen“ hören.
Willkürliche Annahmen
Das NDR-Medienmagazin Zapp zitiert in „Polizeimeldungen: Schuldlose Autofahrer?“ Roland Stimpel von "Fuß e.V.", Fachverband für Rechte von Fußgängern. Für Stimpel ist das Verb "übersehen" eine übliche Verharmlosung "eines groben, im Ergebnis manchmal tödlichen Fehlers". Auch der Sprachwissenschaftler Anatol Stefanowitsch von der Freien Universität Berlin habe erklärt, dass es in den Polizeimeldungen eine Schuldzuweisung an Fußgänger und Fußgängerinnen und Radfahrern und Radfahrerinnen gäbe, dass bei "Autofahrern, die oft Unfallverursacher sind, die Verantwortung ein bisschen zurückgenommen wird". Formulierungen wie "konnte nicht mehr bremsen" seien vor der kriminaltechnischen Untersuchung eine willkürliche Annahme.
Konnte der Autofahrer oder die Autofahrerin objektiv nicht mehr bremsen, war abgelenkt oder mit überhöhter Geschwindigkeit unterwegs? So lange die Polizei das nicht weiß, sollte sie laut Stefanowitsch solche Formulierungen eigentlich nicht verwenden.
Prägen Polizeimeldungen unser Handeln?
Einen gewaltigen mentalen Schritt von der Meldungssprache der Polizei direkt in die Verkehrszukunft macht Dirk von Schneidemesser vom Potsdamer IASS unter der Überschrift "Wir brauchen eine neue Sprache für die Verkehrsberichterstattung". Er sieht unser Bewusstsein geformt und unser Handeln geprägt von den Darstellungen der Ereignisse aus den oft direkt in die journalistische Berichterstattung übernommen Polizeimeldungen. Er verweist auf Großbritannien und die USA wo Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen viel über die Berichterstattung zu Verkehrskollisionen geschrieben hätten. Sie würden dort die entscheidende Rolle der Sprache für unsere Wahrnehmung analysieren, mit der Kollisionen beschrieben werden. Sie spiele eine wesentliche Rolle für unser Urteil darüber, wo die Schuld liegt und was für Maßnahmen helfen könnten, Verkehrsgewalt zu minimieren.
Schneidemesser schreibt, er nutze bewusst das Wort „Kollision“ anstatt „Unfall“. Denn „Unfall“ ( von mittelhochdeutsch „unval“) bedeute „unvorhersehbares Ereignis (mit Personen- oder Sachschaden), Missgeschick, Unglück“. Mit zwischen 3000 und 4000 im Straßenverkehr getöteten Menschen jährlich in Deutschland könne die Rede aber kaum von „unvorhersehbar“ sein. Das Wort „Unfall“ beschreibe Ereignisse der Verkehrsgewalt so gesehen schlecht.
Narrativ auf Kopenhagens Weg zur Fahrradstadt
Auch am IASS forsche man zur sprachlichen Darstellung von Mobilitätsinfrastruktur. Festgestellt wurde dabei, dass die Narrative, die Kopenhagens Weg zur Fahrradstadt prägten, weniger auf die Umwelt und mehr auf Sicherheit fokussierten. Zudem öffne die sprachliche Beschreibung von Verkehrsteilnehmenden als „stark“ oder „schwach“ den Weg zur Schaffung von Infrastruktur, welche die „schwachen“ Verkehrsteilnehmenden schütze.
Angestrebte Formulierungshilfe
Nach kontroversen Diskussionen mit kritischen Zeitgenossen pflichte ich von Schneidemesser bei, wenn der eine Formulierungshilfe für Journalisten und Journalistinnen anstrebt. Vielleicht, so füge ich hinzu, sogar eine für die Polizei. Der IASS-Forscher macht die Hoffnung, dass britische Forscher und Forscherinnen demnächst publizistische Leitlinien zur Verkehrsberichterstattung veröffentlichen würden. Und auch die wären dagegen, dass bei der Beschreibung von Straßenkollisionen in Medienberichten der Begriff "Unfall" verwendet wird. "Kollision" oder "Zusammenprall" seien zutreffender - "vor allem wenn die Fakten des Vorfalls nicht bekannt sind".
Testen Sie sich und ihr Bewusstsein und lesen Sie auch von Dirk von Schneidemesser: Öffnet die Straße im Kopf
Die Hoffnung
Begründete Sprachkritiken und alle in die Zukunft weisenden Worte möchte ich mit diesem Beitrag ins Tagwerk lokaler Redaktionen befördern und vielleicht sogar bis in ein nachhaltiges Gedächtnisprotokoll der Polizei. Grundsätzlich hoffe ich aber, dass die unaufhaltsame Verkehrswende selbst bei tief stehender Sonne von keiner Autofahrerin und von keinem Autofahrer übersehen wird.
Anton Sahlender, Leseranwalt
Siehe auchVereinigung der Medien-Ombudsleute
Die folgenden Links führen zu Meldungen aus der Main-Post, in denen es zu Zusammenstößen kam, selbst wenn sie aktiv von der Person am Steuer eines Fahrzeugs verursacht wurden. Bewerten sie selbst:
1. 84-Jähriger Radfahrer bei Unfall in Sand schwer verletzt 2. Autofahrer übersieht Radfahrer 3. Beim Abbiegen Radfahrer übersehen 4. Auto erfasst Radfahrer am Einkaufsmarkt in Markheidenfeld 5. Fahrradfahrer bei Zusammenprall mit Auto schwer verletzt 6. Radfahrer bei Überholvorgang verletzt.
Frühere ähnliche Leseranwalt-Kolumnen
2014: "Artikel mit Selbstverständlichkeiten in der Überschrift überblättern Leser einfach"
2015: "Die Zeit von "nachdem" ist abgelaufen, wenn in einer Meldung nur etwas zu begründen ist"
2018: "Unfall: Verharmlosende oder spaßige Überschrift vermeiden"
2018: "Lehren für den Journalismus"
2020: "Über einen Anspruch der Presse an die Polizei"