"Die Ampel hat keine Zukunft mehr" - so lautete in der Zeitung vom 30. April auf der Meinungsseite die Schlagzeile über einem Interview mit Daniel Cohn-Bendit, dem bekannten deutsch-französischen Politiker und früheren Europaparlamentarier. Dass jedoch sechs von sieben Fragen nicht der "Ampel", sondern dem Konflikt zwischen Israel und Palästina gegolten hatten, stellte Herr J.K. in einem Leserbrief fest, der in der Ausgabe von 4. Mai erschien. Der Schwerpunkt des Gesprächs mit dem 1945 geborenen Sohn eines jüdischen Paares, so analysiert der Leser zutreffend, galt der weltpolitischen Situation im Nahen Osten.
Leser mahnt: Die Antwort rechtfertigt in keiner Weise diese Überschrift
Nur eine letzte Frage galt der Bundesregierung in Berlin. Die "moderate Antwort" darauf, so kritisiert der Leserbriefschreiber, rechtfertige in keiner Weise die Überschrift. Ja, zu dieser Auffassung kann man nach insgesamt 120 Antwort-Zeilen in der gedruckten Zeitung gelangen. Denn alleine aus den zehn letzten Zeilen entstand die Schlagzeile.
Sie verkennt deutlich die Gewichte des Gesprächs, ebenso wie die erklärenden Zeilen direkt darunter. Die etwas ausführlichere Online-Version des Interviews wurde differenziert betitelt: "Cohn-Bendit: 'Verunsicherung und Radikalisierung werden gerade immer größer'". Auch online findet sich am Ende die kurze Antwort zur "Ampel" wie in der Zeitung.
Eine verkürzte Aussage zu einem direkten Zitat zu machen, ist nicht korrekt
Im Interview erklärt der frühere Parlamentarier, dass die "Ampel" nur mit einem fähigen Bundeskanzler eine Zukunft habe, einem, der mit seinen Partnern denkt und fühlt. Weil dies Olaf Scholz nicht mache, so Cohn-Bendit, "hat die Ampel nach der nächsten Wahl keine Zukunft mehr".
Verständlich, dass Zeitungsleser J.K. angesichts des Titels fragt: Wird subjektiv Stimmung zur Regierung vermittelt? Tatsächlich ist ja nichts politisch nur schwarz-weiß, wie der Titel Glauben machen könnte. Er ignoriert Nuancen, verkürzt eine abgestufte Aussage von Cohn-Bendit und macht sie mit Anführungszeichen zu seinem direkten Zitat. Das ist nicht korrekt.
Bei der Suche nach Aufmerksamkeit sollte man nicht in Populismus verfallen
Leserinnen und Leser orientieren sich an der Überschrift, bevor sie in einen Artikel einsteigen. So erklärt es J.K. angesichts der Nachrichtenfülle für sich und seine Frau. Ihr Interesse habe dem Zustand der Ampel-Koalition gegolten. Ein Titel aus Cohn-Bendits Worten über Israel und Palästina aber wäre treffender und ehrlich gewesen. Das gilt, selbst wenn es schwierig ist, aus Cohn-Bendits differenzierenden Aussagen zum Nahost-Konflikt eine einprägsame Schlagzeile zu formulieren, die in einen auf wenige Worte beschränkten Rahmen passt. Denn durch Zuspitzungen darf man auf der Suche nach Aufmerksamkeit in keinen Populismus verfallen.
Die Redaktion hat die Freiheit, Interview-Überschriften alleine zu gestalten
Es ist keine Pflicht, aber gang und gäbe, dass Interviewte ihre Aussagen vor deren Veröffentlichung autorisieren. So auch Cohn-Bendit. Das gibt nicht nur den Beteiligten Sicherheit, der korrekten Information der Leserschaft dient es außerdem. Denn was als wörtliche Rede im Medium erscheint, ist fast immer aus langen Gesprächen und ins Unreine gesprochenen Sätzen herausgefiltert.
Nicht nehmen lassen sich Redaktionen aber ihre Freiheit, die Überschrift über Interviews alleine zu formulieren. Dennoch würde ich gerne wissen, ob Cohn-Bendit das ihm zugeordnete Zitat im Titel der Zeitung gutheißt.
Als Merksatz bleibt: Überschriften verkürzen meist. Wer den Artikel liest, weiß mehr.
Anton Sahlender, Leseranwalt
Siehe auch Vereinigung der Medien-Ombudsleute e.V.
Leseranwalt-Kolumnen zum Thema Interviews und Zitate:
April 2023: "Kräftige Worte von Marcel Reif"
März 2023:
"Wie eine krasse Schlagzeile am Kitt der Gesellschaft kratzt"
"Wenn bei Interviews Wissenswertes für Leserinnen und Leser verborgen bleibt"
Sept. 2021: "Gedanken zum Einfluss von Zeitungen auf Wählerinnen und Wähler"
Nov. 2018: "Nachgeholte Berichtigungen"
Nov. 2027: "Ein Eingeständnis wäre gut gewesen"
März 2014: "Wider ausgeschriebene Fäkalausdrücke und für eine gereinigte Sprache in der Zeitung"
Wie fast immer in solchen Fällen hat die MP wieder mal still und heimlich die Überschrift, evtl. auch noch mehr, retuschiert.
Wann wird endlich mal eine Änderungshistorie eingeführt?
Zu feige eigene Unzulänglichkeiten zuzugeben, aber genau das bei Anderen, aus beruflichen Gründen, anzuwenden und anzuprangern.
Mit freundlichen Grüßen
Ralf Zimmermann, Main-Post Digitales Management
Anton Sahlender, Leseranwalt