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LESERANWALT
Leseranwalt: Wie eine krasse Schlagzeile am Kitt der Gesellschaft kratzt
Eine Politikerin wird im Interview verteufelt. Aus der Aussage wird die Überschrift des Artikels. Was ein Leser dazu sagt - und warum der Leseranwalt zu Selbstreflexion rät.
Nannte Sahra Wagenknecht im Interview eine 'Advokatin des Teufels': Marina Owsjannikowa, frühere Mitarbeiterin des staatlichen russischen Fernsehsenders Perwy Kanal. 
Foto: Gerald Matzka, dpa | Nannte Sahra Wagenknecht im Interview eine "Advokatin des Teufels": Marina Owsjannikowa, frühere Mitarbeiterin des staatlichen russischen Fernsehsenders Perwy Kanal. 
Anton Sahlender
Anton Sahlender
 |  aktualisiert: 12.06.2023 13:37 Uhr

Reißerisch oder nicht? Das ist bei Kritiken an Überschriften oft die Frage. Darüber stets neu nachzudenken, gehört mehr denn je zu journalistischer Verantwortung. Denn die Versuchung, mit krassen Schlagzeilen Aufmerksamkeit und Klicks auf Online-Portalen oder Sozialen Netzwerken erzielen und die eigene Reichweite zu erhöhen, sollte in seriösen Medien hinter ihre Verantwortung für Demokratie und Gesellschaft zurücktreten.

Was über ein Gespräch mit Marina Owsjannikowa stand

Exemplarisch greife ich die Überschrift eines Interviews vom 28. Februar aus der Zeitung auf: "Marina Owsjannikowa: Wagenknecht ist die Advokatin des Teufels". So stand es groß über dem Gespräch mit der 44-jährigen Journalistin, die für ihre Anti-Kriegs-Aktion im russischen TV weltweit bekannt ist. Ein Journalist befragte sie zu ihrer Flucht aus Russland. Aber sie hat eben nicht nur dazu geredet. Das Interview war von der Augsburger Allgemeinen für die Main-Post-Ausgaben übernommen worden.

Schweinfurter Leser: Dieser Titel gehört nicht in eine seriöse Zeitung

Alle Aufmerksamkeit konzentriert sich natürlich auf die genannte Überschrift. Die gehöre nicht in eine seriöse Zeitung, schreibt mir ein Schweinfurter Leser. Zeiten der Hexenverfolgung seien vorbei. Er erklärt: Im Interview gehe es eigentlich um das Handeln der mutigen Russin. Auf Frau Wagenknecht aber komme die Sprache nur in der vorletzten Frage. Aus einer unglücklichen Antwort von Owsjannikowa, so der Leser, sei dann die reißerische Überschrift geworden. Das kann man so sehen. Ich weiß aber nicht, ob die Antwort unglücklich ist. Zumindest entsteht der Eindruck, dass sie bewusst gegeben wurde.  

Die Überschrift ist vom Text gedeckt - doch sie befeuert den medialen Mainstream 

Der Leser argumentiert mit meinem Leseranwalt-Beitrag, in dem ich eine "Chaos-Schlagzeile" als Sündenfall kennzeichne, vor allem weil sie ohne Bezug zum Artikel dasteht. Die "Advokatin" steht im vorliegenden Fall aber als Original-Zitat auch im Interview. Da stimmt der Bezug und deckt formal auch die Überschrift. Zu der bekennt sich der Journalist, der die Frau interviewt hat. Nach meiner Anfrage macht er ersichtlich, dass ja nicht langweilen wolle. 

Formal ist nichts zu kritisieren. Aber das ist nicht alles. Ist die Kennzeichnung der bekannten linken Politikerin als "des Teufels Advokatin", redaktionell zur Schlagzeile erhoben, reißerisch? Sie schwimmt - wie der Chaos-Titel - zumindest wieder in einem medialen Mainstream mit. Der attackiert auf allen Kanälen Sahra Wagenknecht, nun besonders als Mitinitiatorin eines Manifestes, einer Demo für Frieden und für ein Ende des Waffengangs in der Ukraine. Die digitale Teilnahme daran ist groß. Die Kontroversen sind heftig, oft unsachlich und reißen Gräben auf.

Journalistische Selbstreflexion wäre angesagt

Ein Kollege der Redaktion der Augsburger Allgemeinen, zu der auch der Interviewer angehört, warnt in seinem trefflichen Leitartikel, der in der Main-Post am 3. März erschien: "Eine Gesellschaft, in der immer weniger Bürgerinnen und Bürger bereit sind, eigene Positionen zumindest zu hinterfragen, verliert den Kitt, der sie zusammenhält." Sein Vorwurf, "immer öfter diskreditieren Menschen ihre Gegner, statt sich mit ihren Positionen auseinanderzusetzen", spricht gemeinhin Politiker an.

Nur auf Politiker und deren Kommunikation zu deuten ist wohl zu einfach. Denn gerade Journalisten sollten ihre erhebliche Mitverantwortung für den Kitt im Lande nicht vergessen. Da wäre also Selbstreflexion angesagt. Das bringt mich zurück auf die Verteufelung einer Politikerin. Eine Diskreditierung, die zur Schlagzeile gemacht wurde. Dabei steht die kaum für das Gespräch mit der interviewten Russin. Ob er für deren Persönlichkeit stehen kann, ist nicht sehr wahrscheinlich. Für ihre Wagenknecht-Kennzeichnung  bedurfte es ohnehin nicht annähernd des Mutes, der Frau Owsjannikowa zuvor weltweit Respekt eingebracht hat. 

Verkürzungen, Zuspitzungen: Was Medien nicht verstärken dürfen

Bei der hier diskutierten Überschrift beklage ich keinen Trend zur Suchmaschinen-Optimierung, der gerne mal aus der digitalen Sphäre in die Zeitung überspringt. Denn ein vergleichbar krasses Zitat, wie das von Journalistin Marina Owsjannikowa, wäre vor 30 Jahren wohl ebenfalls gerne für eine gedruckte Schlagzeile genutzt worden. Aktuell meine ich jedenfalls, hätte man es aber lieber bleiben lassen sollen. Die Online-Welt hat Kommunikationen und Diskurse schon erheblich vergiftet, auch die zu jenem Friedensmanifest. Zurecht beklagt der Augsburger Leitartikler, er sehe "ob fragwürdiger Verkürzungen und Zuspitzungen die politische Diskussionskultur den Bach heruntergehen". Ich füge hinzu: Das sollten Medien nicht noch mit Schlagzeilen verstärken.

Damit kein Missverständnis entsteht: Dieser Beitrag ist keine politische Stellungnahme zum Friedensmanifest und zu Frau Wagenknecht. Es geht im vorliegenden Fall um kritische Gedanken zum Journalismus und etwas Selbstreflexion.

Anton Sahlender, Leseranwalt

Siehe auch Vereinigung der Medien-Ombudsleute e.V.

Ergänzende Leseranwalt-Kolumnen:

2023: "Überschriften sollen Aufmerksamkeit erregen - sie können aber auch trügerisch sein"

2022: "Wer in der Redaktion verantwortlich ist für einen reißerisch wirkenden Titel"

2022: "Wenn die "Spaltung" in der Schlagzeile den Trennungsgrundsatz trifft"

2022: "Warum Leserinnen und Leser in eigener Sache für Zeitungen werben sollten"

2021: "Wie das Streben nach Gewissheit im Journalismus zur Schwäche wird"

 
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