Kollege Helmut Burlager, Ombudsmann der Wilhelmshavener Zeitung, berichtet über Interviews unter dem Titel "Einvernehmlich begangene Irreführung". Er spricht damit speziell die wörtlich niedergeschriebenen Gespräche in Zeitungen an. Diese kämen nämlich anders zustande, als viele denken, erklärt Burlager. Da hat er Recht, denn einiges lassen Interviews meist im Verborgenen.
Redakteur bügelt ins Unreine gesprochene Sätze aus
Der ostfriesische Kollege (aus Leer) bezieht seinen provozierenden Titel auf die bekannten verstorbenen Autoren Wolf Schneider und Paul-Josef Raue, die schon in ihrem weit verbreiteten "Handbuch des Journalismus" eine "einvernehmlich betriebene Irreführung des Lesers" beschrieben haben. Das ist bewusst zugespitzt, und die Gründe dafür lassen sich erklären: Vor der Veröffentlichung von Interviews bügelt der Redakteur nämlich ins Unreine gesprochene Sätze aus. Er formuliert sie lesbar. Manchmal verändert er Fragen und bringt Antworten besser auf den Punkt.
Alles soll einer guten Verständlichkeit dienen
Die Reihenfolge des Gesprächsverlaufs kann von Journalisten ebenfalls im Text umgestellt werden. Sogar Themenkomplexe können wegbleiben, wenn sie unwichtig erscheinen oder nichts zur Sache tun. Das alles soll am Ende einer guten Verständlichkeit des Gesprächs dienen. Dessen Sinn aber, der muss dabei bis ins Detail erhalten bleiben. Genau dafür gibt es eine Absicherung: Die meist mit dem Interviewpartner vereinbarte Autorisierung noch vor der Veröffentlichung. Die bewahrt umgekehrt auch Journalisten davor, dass sich später jemand von seinen Aussagen distanziert.
Autorisierung, weil sie Sinn macht
Autorisierung ist zur Praxis geworden. Das heißt, fast alle Politiker oder Künstler lassen sich die mit ihnen geführten Interviews vor Veröffentlichung vorlegen. Die Redaktionen gehen meist darauf ein, eben weil es Sinn macht. Wie beschrieben filtert der Journalist ja möglichst professionell Fragen und wörtliche Antworten aus langen, ja manchmal stundenlangen Gesprächen heraus. Da muss viel von dem Gesprochenen wieder wegfallen, also gekürzt werden. Aber Persönlichkeiten, die im Brennpunkt der Öffentlichkeit stehen, legen oft jedes Wort auf die Waagschale. Bei allem Vertrauen in den Journalismus, verstehe ich, wenn diese Leute in Interviews das Risiko scheuen.
Zentralratspräsident Josef Schuster verzichtete auf die Autorisierung
Ihre Leitlinien geben den Main-Post-Redaktionen nur vor: "Ob ein Wortlaut-Interview zu autorisieren ist, muss im Einzelfall geprüft werden." Tatsächlich setzen sie aber längst automatisch auf Autorisierung. Als zum Beispiel in diesem Januar der Parteichef der Grünen, Omid Nouripour, zum Neujahrsempfang seiner Partei Schweinfurt besuchte, nutzte die Redaktion die Gelegenheit und fragte ein Gespräch mit ihm an, das zugesagt wurde. Autorisierung wurde nicht gefordert und dennoch vereinbart. Das Interview, das daraus entsprang, ist folglich autorisiert. Man kann sich in der Redaktion auch kaum erinnern, dass das mal nicht der Fall gewesen ist. Lediglich Josef Schuster, der Präsident des Zentralrats der Juden, hat beim Gespräch am Tag nach dem Terroranschlag in Hanau darauf verzichtet und der Redaktion auch aus Zeitgründen vertraut.
Redaktionen nehmen nicht alles hin
Aber Redaktionen nehmen nicht alle Ergebnisse von Autorisierungen hin: Entfernt die befragte Person bei ihrer Autorisierung mit Korrekturen den Sinn des geschriebenen Wortes zu weit vom Gesprochenen (meist einvernehmlich auf Tonträgern aufgenommen) oder dreht Antworten gar ins Gegenteil, haben Redaktionen sich schon die Freiheit genommen, ganz auf die Veröffentlichung zu verzichten. Das haben sie der Leserschaft dann in eigenen Beiträgen erklärt. Wenn Politiker oder deren Pressesprecher wesentliche Antworten im Nachhinein ganz gestrichen haben, wurden die mitunter schon plakativ geschwärzt abgedruckt. Die Frage dazu blieb aber sichtbar. Betroffen war davon auch Olaf Scholz, als er noch Generalsekretär der SPD war.
Eine Unsitte erschwert journalistische Arbeit
Spannende Interviews bedürfen der Vorbereitung damit sie zur attraktiven und dann gut genutzten Darstellungsform werden. Sie beruhen allerdings auf Freiwilligkeit, auch für Politiker. Und so sinnvoll die Autorisierung erscheint: Verpflichtend ist sie nur wenn sie vereinbart wurde.
Zur Unsitte ist es allerdings geworden, dass Politikerinnen und Politiker sich einzelne wörtliche Zitate, die nach Recherchen in Artikeln veröffentlicht werden sollen, zur Autorisierung vorlegen zu lassen. Ein Redakteur dieser Zeitung sagt dazu: Man komme diesen Wünschen meist nach, aber es erschwere das Arbeiten. Er wünsche sich mehr Gelassenheit und Vertrauen.
Der Deutsche Journalistenverband sieht freilich in seinen ausführlichen Leitlinien zur Autorisierung von Interviews für komplette Beiträge oder indirekt wiedergegebene Zitate aus Rechercheanfragen keine Notwendigkeit.
Ausnahmen sind wörtliche Zitate
Die Leitlinien der Main-Post-Redaktionen sagen: "Neben den Wortlaut-Interviews geben wir grundsätzlich keine Texte vor Veröffentlichung an Recherche- oder Gesprächspartner weiter. Ausnahmen sind wörtliche Zitate, wenn der Gesprächspartner dies ausdrücklich wünscht. Auch bei hochkomplexen Themen, wie zum Beispiel aus den Bereichen Wissenschaft und Forschung, dürfen Textpassagen zur faktischen Überprüfung an den Recherche- oder Gesprächspartner gegeben werden."
Vorschläge an Redaktionen
Um tatsächlich Irreführungen, Verwirrungen und Misstrauen auszuschalten und um stets Klarheit herzustellen, schlage ich Redaktionen für Interviews vor:
1. Vermittelt gleich mit den Interviews, ob sie autorisiert sind oder nicht. Das ist eine relevante Information. Sie schafft Transparenz, Vertrauen und Medienkompetenz. Gelegentlich steckt darin auch eine Aussage zu interviewten Personen und ihrer Situation.
2. Wissenswert ist: Hat eine Persönlichkeit, etwa ein Politiker, selbst um ein Interview gebeten oder kam es auf redaktionelle Initiative zustande? In der Antwort auf diese Frage kann ebenfalls eine Botschaft stecken, das nicht alleine in Wahlkampf-Zeiten oder dann, wenn eine Person öffentlich in die Kritik geraten ist.
Leserinnen und Lesern sei empfohlen, Interviews auch unter solchen Gesichtspunkten wahrzunehmen.
Anton Sahlender, Leseranwalt
Siehe auch Vereinigung der Medien-Ombudsleute.
Ergänzende Leseranwalt-Kolumnen dazu:
2023: "Leseranwalt erklärt ungeschminkt, wie aus Söder am Schminktisch eine Zeitungsseite wurde"
2022: "Wie eine krasse Schlagzeile am Kitt der Gesellschaft kratzt"
2021: "Gedanken zum Einfluss von Zeitungen auf Wählerinnen und Wähler"
2020: "Eine Empfehlung für die besorgte Großmutter"
2019: "Journalistische Wahrhaftigkeit und Gott"
2019: "Kräftige Worte von Marcel Reif"
2015: "Die Vergebung und der Journalismus"
ich nehme Ihre Ansicht interessiert zur Kenntnis. Ich mache Sie aber darauf aufmerksam, dass Sie von einer falschen Annahme ausgehen. Dieses Interview erscheint nicht „wie ein Murmeltier in den täglichen Nachrichten“. Es erscheint dort nämlich überhaupt nicht mehr. Für diese meine Kolumne hier ist es nur Anschauungsmaterial. Aus dem Main-Post-Archiv gelöscht wird es allerdings nicht. Es ist dort ein Mosaiksteinchen in der Zeitgeschichte. Wenn Sie es nicht lesen möchten, müssen Sie es nicht hervorholen.
Anton Sahlender, Leseranwalt