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LESERANWALT
Leseranwalt: Warum beim "Schlagabtausch" im Netz Kontrahenten unerkannt bleiben dürfen
Für Diskussionen in Internet-Foren wird nicht der Maßstab angelegt, der für Leserbriefe in der Zeitung gilt. Die Erklärungen für einen Leser, der Klarnamen gefordert hat.
Beim Boxen kennen sich die Gegner. Kein Vergleich zu manch hartem verbalem Schlagabtausch,  wie er gerne im Internet geführt wird, wo oft nur Pseudonyme aufeinander treffen. Das Symbolbild zeigt ein Kampf zwischen Aleksander Kallashi und Darian Yasar 2021.
Foto: Symbolfoto Valeria Witters, dpa | Beim Boxen kennen sich die Gegner. Kein Vergleich zu manch hartem verbalem Schlagabtausch,  wie er gerne im Internet geführt wird, wo oft nur Pseudonyme aufeinander treffen.
Anton Sahlender
Anton Sahlender
 |  aktualisiert: 27.04.2023 12:35 Uhr

Noch nie haben mir die Absenderin oder der Absender eines Leserbriefes vorgeschlagen, ihre Zeilen in der Zeitung unter Pseudonym zu bringen und dies allen anderen Absendern auch zu gestatten - weil dies schließlich ja online in den Foren auf mainpost.de auch möglich sei. Umgekehrt aber erreicht mich nicht zum ersten Mal eine Anfrage wie aktuell die von Herrn K.L.: Wieso gilt digital nicht der analog bewährte klare Maßstab für Leserbriefe? Also die Regel, dass ein Leserbrief nur mit Namen und Wohnort abgedruckt wird. Und dass es zuvor eine redaktionelle Prüfung dieser Angaben gibt. Also kein Verstecken hinter Pseudonymen, schreibt K.L. (sie die Journalistischen Leitlinien der Redaktion, Teil II Erläuterungen, Punkt 6).

Journalistische Verantwortung gilt auch digital

Es gibt Gründe für den unterschiedlichen Umgang. Die Vorgehensweise mit den Leserbriefen für die Zeitung ist mit journalistischer Verantwortung etwas besser vereinbar und der Umgangston in der Regel gesitteter als in digitalen Foren. So gibt es am Verfahren für Leserbriefen allgemein weniger zu kritisieren. Allerdings darf journalistische Verantwortung für die Internet-Angebote  nicht abwesend sein, auch nicht für ihre Meinungsforen. Trotz technischer Schnelligkeit, Unmittelbarkeit und Spontaneität der Äußerungen sind Grenzen gesetzt: "Die Presse trägt Verantwortung für ihre Angebote, auch für die von Nutzern beigesteuerten Inhalte (User-Generated Content)", heißt es unter Richtlinie 2.7 im Pressekodex.

Liegt der raue Ton am Pseudonym?

Doch digital werde "Tatsachen-Verdrehern, Leugnern wissenschaftlicher Fakten und wilden Fabulierern Tor und Tür für jeglichen Unsinn geöffnet", beanstandet K.L.. Da begebe sich diese Redaktion "auf das Niveau von Twitter, Facebook und Werkzeugen ähnlicher geistiger Größe". Dass die Kritik stark übertrieben ist und der Vergleich mit Social-Media-Plattformen kaum zutrifft, wird K.L. selbst wissen. Dennoch lautet die Frage, um die es geht: Kommt es deshalb zu einem rauen, oft gewöhnungsbedürftigen Umgangston, weil er unter Pseudonym abgegeben worden ist?

Netiquette gestattet konsequentes Eingreifen

Enttäuschen muss ich Leser K.L.. Der Umgang mit Meinungsäußerungen im digitalen Forum wird dem für Leserbriefe in der Main-Post nicht angepasst. Es gibt hier folglich weiterhin keine Klarnamen-Pflicht. Versucht wird aber, das Diskussionsklima auch in den digitalen Foren zu verbessern, erklärt der Leitende Redakteur Tobias Köpplinger als einer der dafür Verantwortlichen. Seit fast einem Jahr seien Regelungen der Netiquette darauf ausgerichtet, bei Verstößen konsequent eingreifen zu können. Rutsche mal eine Überschreitung durch, könne das über Melde-Funktion direkt angezeigt werden.

Insgesamt geht es um Respekt und um einen fairen Tonfall. Im Juli 2020 habe ich dazu bereits einiges erklärt, was einem Aufruf an die Nutzer gleichkam: "Beim Nachschärfen der Netiquette helfen".

2400 digitale Kommentierungen in zwei Wochen

Ein wichtiger Faktor ist die Menge der Kommentierungen. So sind laut Köpplinger alleine in den vergangenen zwei Wochen etwa 2400 digitale Kommentare erschienen – überwiegend problemlose. Die Absender mussten sich zumindest der Redaktion gegenüber namentlich zu erkennen geben. Aber Echtheitsprüfungen sind ob der großen Zahl nicht machbar. Und außerdem würden Klarnamen die Qualität der Meinungsäußerungen wohl nicht verbessern, meint Köpplinger und sagt: "Wir können das überall dort beobachten, wo Menschen unter ihrem Klarnamen kommentieren."

Wer hetzen und trollen wolle, tue das auch unter echtem Namen. Was habe er schon zu befürchten? Wer weist nach, wer wirklich kommentiert hat? Welche strafrechtlichen Konsequenzen gibt es? Aus diesen Fragen wird auch die große Schwierigkeit erkennbar, falsche Absender im Netz überhaupt erst zu ermitteln.

Zum Bauchgefühl der Menschen, die nicht im Netz geprägt wurden

Köpplinger erinnert an das, was Sascha Lobo im "Spiegel" geschrieben hat: Forderungen nach Klarnamen würden dem Bauchgefühl von Menschen entspringen, die nicht im Netz geprägt wurden. Das ist zuweilen offenbar trügerisch. Evidente Studien bestätigen dieses Bauchgefühl nach Lobos Worten jedenfalls nicht. Er zitiert dazu Erkenntnisse aus Südkorea aus dem Jahres 2011.

Lobo argumentiert auch aus Erfahrung, dass unter anderem über 10 000 Leute auf Facebook, meist mit Klarnamen, die Wiedereröffnung eines KZ gefordert oder Rassisten sich unter ihren Namen über den Tod von Flüchtlingen gefreut hätten. Und er nennt weitere Beispiele, die nachweisen sollen, dass Klarnamen nicht von schlimmsten Kommentierungen abhalten.

Im Hinblick auf solche Verfehlungen vermittelt Köpplinger für mainpost.de allerdings etwas Sicherheit. Alle, die mit Worten oft und gerne auf der Rasierklinge tanzen, behalte die Redaktion besonders im Auge. Andererseits sagt der Leitende Redakteur aber auch: ""wir müssen im Netz ein bisschen was aushalten." Er spricht damit die direkte, unmittelbare, und harte Kommunikation an.

Die digitale Stärke wird genutzt

Leserbriefspalten sind "langsam". So ist zu verstehen, dass die direkte Kontroverse, zuweilen ein Schlagabtausch innerhalb weniger Minuten, als zeitgemäße digitale Stärke stark genutzt wird. An diesem Vorzug kommt kein Medium vorbei. Aber müssen Fantasienamen dabei wirklich sein?  Wissen doch selbst Boxer, wer ihnen bei ihrem sportlichen Schlagabtausch gegenübersteht.

Dieser mein Vergleich mag hinken. Dennoch suche und bevorzuge ich allemal Diskurse mit den Klarnamen der Beteiligten. Das ist auch Teil medialer Transparenz, die Glaubwürdigkeit sicherstellt. So empfehle ich etwas Vorsicht davor, sich zu sehr durch  das Netz mit seinen negativen Anfälligkeiten prägen zu lassen. Vielleicht sieht mir Sascha Lobo dieses Bauchgefühl nach. Denn auch publizistische Grundsätze und ethische Werte sollten sich im Internet nicht auflösen.

Anton Sahlender, Leseranwalt

Siehe auch Vereinigung der Medien-Ombudsleute e.V.

Frühere ergänzende Leseranwalt-Kolumnen zum Thema:

2009: "Typisch Internet: Offene Worte unter verdeckten Namen"

2015: "Wo die Begegnung von Klarnamen aus der Zeitung mit Online-Pseudonymen Ärger bereitet hat"

2015: "Ein Lebenselement, der Leserbriefschreiber"

2018: "Versuchte Einschüchterung"

2018: "Diskussionsmüll vermeiden"

2018: "Kein mildernden Umstände für ängstlichen Leser"

 
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