
Kinder spielen Fußball. Die Mannschaft liegt 0:1 hinten, die Eltern schimpfen. Der Trainer versucht alles, bringt nochmal alle "Guten", die er erst kurz davor ausgewechselt hat. Er will gewinnen, die Kinder wollen es auch. Die Eltern schreien, feuern an. Die Mannschaft erzielt den Ausgleich. In der Schlussminute tatsächlich noch den 2:1-Siegtreffer. Trainer und Eltern jubeln. Die Kinder auch. Bis auf ein paar. Sie haben gar nicht oder maximal zwei Minuten gespielt – es ist nicht ihr Sieg. Ein Kind weint. Ein typischer Fußball-Samstag irgendwo in Deutschland.
"Das ist genau das, was wir nicht wollen", sagt Michael Oechsner. Er ist Jugendleiter beim FC Grünsfeld. Ein Verein im Main-Tauber-Kreis im fränkischen Nordosten von Baden-Württemberg. Ein erfolgreicher Verein. Nur: Erfolg ist in der Jugendabteilung nicht alles. Hier gibt es seit diesem Sommer ein neues, ganzheitliches Jugendkonzept. "Immer vom Kind aus denken", fasst Oechsner den Inhalt in fünf Worte zusammen. "Die Entwicklung des Kindes soll im Mittelpunkt stehen, nicht die reine sportliche Leistung." Dazu gehört, dass alle Kinder die gleiche Spielzeit bekommen sollen.
Nur eine von vielen Leitideen, die der 43-jährige Heilerziehungspfleger und seine beiden gleichaltrigen Mitstreiter Bernd Kriegisch (Lehrer) und Antonio Romero Rincon (leitender Vertriebsangestellter) postuliert haben nach ihrer Wahl im Mai. Die drei sind aus dem Ort, Oechsner war Jugendtrainer ("da lief im Verein manches nicht so, wie ich mir das erwünscht hätte"), Kriegisch ist ein früherer Landesliga-Fußballer des heute noch in der sechsten Liga beheimateten FCG und Rincon kickte in der Jugend mal beim VfB Stuttgart und später in der Oberliga. "Wir waren zur richtigen Zeit am richtigen Ort" – der gesamte Vorstand wurde im Sommer verjüngt.

Das neue Jugendkonzept, maßgeblich von Kriegisch entwickelt, steht auf zwei wesentlichen Säulen: "Kicks – gemeinsam stark" und "Stark ohne Muckis". Letzteres ist ein Selbstbehauptungsprogramm, in dem Kinder lernen sollen, sich von Mobbing abzugrenzen. "Wir bieten eine Persönlichkeitsschulung an", so Oechsner. Jede Jugendklasse betreut ein soziales Projekt. Die E-Jugend zum Beispiel hat den inklusiven Sporttag betreut und sich um die Menschen mit Handicap gekümmert. Andere Mannschaften helfen im Tafel-Laden oder sammeln Müll. Die Kleinsten werden verkehrssicher gemacht.
Sportlicher Erfolg dank erhöhter Sozialkompetenz
Hört sich an, als käme der Fußball recht weit hinten auf der Agenda des Trios. Ist aber nicht so. Sportlicher Erfolg dank erhöhter Sozialkompetenz, so lautet das Motto – ohne dabei auch nur im Entferntesten ein verkapptes Leistungszentrum aufbauen zu wollen. "Wir wollen einen Wohlfühl-Faktor vermitteln, wie ich ihn aus meiner Kindheit gekannt habe", sagt Oechsner. Das sei jahrelang auf der Strecke geblieben, schließlich seien immer weniger Kinder gekommen. Oder es musste in sehr großen Spielgemeinschaften gekickt werden, wo es an Identifikation fehlte. Letztendlich diene das Konzept der Stärkung der Nachwuchsarbeit – qualitativ und quantitativ.
In der kurzen Zeit, in der die drei – anfangs ohne Titel – im Verein wirken, sei die Zahl der Bambini von zwölf auf 55 gestiegen, F-, E- und D-Jugend lägen jeweils bei gut 20 Kindern, von der C- bis zur A-Jugend stecke man noch in Spielgemeinschaften (SG), wolle aber auch hier zeitnah autark sein. Auch eine Mädchen-Mannschaft befinde sich im Aufbau. Alles, ohne – und darauf legt Oechsner wert – bei anderen Vereinen abzugrasen. Der benachbarte SV Zimmern habe sich von sich aus mit seiner Jugend eingeklinkt.
Kein Kind soll beim Training in der Warteschlange stehen
Alles unter dem Dach von "Kicks". Im Team stehen derzeit 35 Personen, darunter 20 Trainer und drei Jugendleiter. Ein anderer kümmert sich um Fördergelder, eine ist Kinderschutzbeauftragte. Alle sind aus Grünsfeld und unmittelbarer Umgebung. Oechsner: "Wir waren nicht auf der Suche nach Trainern mit der höchsten Lizenz, sondern sie mussten von der Persönlichkeit her passen. Dann haben wir angefangen, sie zu schulen, beziehungsweise sie dezentral im Verein zum Basis-Coach ausbilden zu lassen. Nächstes Jahr folgen Aufbau-Lehrgänge."

In den Trainingseinheiten wird darauf geachtet, dass kein Kind in der Warteschlange steht, deswegen werden kleine Gruppen gebildet. Auch bei den Spielen soll möglichst wenig gestanden oder gesessen werden. Damit alle Kinder reichlich Spielzeit bekommen, bilden die drei Jugendleiter viele und kleine Mannschaften. Beispielsweise in der E-Jugend aus 25 Kindern drei Teams. Von jeweils acht Kindern spielen sechs – es werde gerecht gewechselt. Risiko: Ausfälle darf es kaum geben. "Dann haben wir einen mächtigen Organisationsaufwand, das zu kompensieren."
Aber der einfache Weg ist eh nicht das Ding von Oechsner und Co. Aufbauarbeit steht erst einmal an. Dazu gehört, dass jedes Kind einen eigenen Ball bekommt, für den es verantwortlich ist. Jede Jugend erhält einen Namen für mehr Identifikation. Die A-Jugendlichen sind die Alphas, die D-Jugendlichen die Dragons, die E-Jugendlichen die Energys – inklusive Trainingsshirts mit dem entsprechenden Schriftzug.
Ein Jugend-Vorstand soll gewählt werden, für den jede Jugendmannschaft einen Vertreter abstellt. Die Kinder und Jugendlichen sollen an den Trainer-Besprechungen teilnehmen. Demokratie und Individualität werden großgeschrieben: Oechsner nennt das Beispiel eines C-Jugendlichen, der in die B gekommen wäre. Da hätte er in eine anders zusammengesetzte SG gemusst "und wollte das nicht, weil er sich im Nachbarort nicht wohlgefühlt hätte. Wir haben ihm angeboten, weiter bei der C zu trainieren und auf den Spielbetrieb zu verzichten. So verlieren wir das Kind nicht".
Eskalationsstufen-Modell fängt schwierigere Charaktere auf
Nicht verlieren wollen die Grünsfelder auch schwierigere Charaktere. Deswegen gibt es ein "Eskalationsstufen-Modell". Erste Stufe sei nach einer Auseinandersetzung das Gespräch zwischen Trainer und Spieler. In Stufe zwei kämen die Eltern dazu, in Stufe drei der Jugendleiter. Und erst als letzte Konsequenz gebe es einen wochenweisen Ausschluss. Oechsner: "Wir sehen die Entwicklung eines Kindes als Korridor. Da kann es nach links oder rechts laufen, aber es braucht auch eine Bande."

Um von vornherein Eskalationen zu minimieren, existiert ein Verhaltenskodex für Spieler, Trainer und Eltern: "Wir wollen richtiges Verhalten gegenseitig einfordern, als Erwachsene vorbildlich vorangehen. Wir lernen und lehren, wie man mit Kritik umgeht, wie man kein Kind vor anderen bloßstellt. Eltern sollen sich am Spielfeldrand passiv verhalten. Über allem steht eine gute Außendarstellung." Selbst die A-Jugendlichen aus der Landesliga-SG hätten das unterschrieben.
Zusatzbeitrag fürs Kicks-Konzept: monatlich fünf Euro
Im Verein sei man auf offene Ohren gestoßen. Kritische Stimmen gebe es aber auch. Stimmen, die Kriegisch ebenfalls konzeptionell einfangen möchte: mit dem Programm "Fußball plus". Ziel ist es, das Vereinsleben zu stärken: mit Plattenpartys, Halloween-Feiern oder Nikolaus-Besuchen in den Familien. Ein Renner war wohl die Erstauflage des Eltern-Kinder-Kicks.
Finanziert wird das Kicks-Konzept mit einem zusätzlichen Monatsbeitrag von fünf Euro. Mit dem finanzschwächere Eltern nicht alleingelassen werden sollen. Ein Sponsor hat sich bereiterklärt, einzuspringen. Schließlich wird ein Großteil dieser Einnahmen für einheitliche Trainingskleidung, schicke Trikots, gutes Trainingsmaterial und Ausflüge verwendet. Und da soll, wie auf dem Sportplatz auch, kein Kind ausgeschlossen werden. Oder weinen.