Was ist eigentlich aus der "Super-Gruppe" geworden? 45 Personen, alleine 27 vom TSV Grafenrheinfeld, hatten sich Anfang 2019 im Fußball-Kreis Schweinfurt zum Schiedsrichter-Neulingskurs angemeldet - ein einzigartiger Rekord. Ein Jahr später waren 13 von ihnen aktiv im Einsatz. Und 2023? Obmann Heinrich Keller sagt mit einem lachenden und einem weinenden Auge: "Geblieben sind sieben. Aber auf die ist Verlass." Kopfschütteln ruft bei ihm der Optimismus des Bayerischen Fußball-Verbands (BFV) hervor, der auf hohen Meldezahlen beim Online-Neulingskurs fußt, über den seit 2020 über 2000 Schiedsrichterinnen und Schiedsrichter ausgebildet worden sind.
Ausgebildet. Aber auch letzten Ende auf dem Platz gelandet? 532 Männer, Frauen und Jugendliche im Alter von elf bis 67 Jahren hatten für den aktuellen gemeldet. Nur sei das kaum mehr als Augenwischerei, rechnet Keller vor: 175 Personen hätten, so der 69-Jährige, der die Gruppe Schweinfurt seit 2017 leitet, erst gar nicht teilgenommen, 231 seien durchgefallen und nur 126 hätten bestanden. Ein Dilemma, das "seine" Rekord-Geschichte repräsentativ für den ganzen "Laden" macht.
Massiver Schiedsrichter-Schwund in den letzten 20 Jahren
Dass die Zahlen großflächig alarmierend sind, ist auch dem neuen BFV-Präsidenten Christoph Kern nicht verborgen geblieben, der nach massiven Einbrüchen insbesondere bei den Über-60-Jährigen von "Handlungsbedarf" spricht. Seit dem WM-Sommermärchen 2006 hat sich die Zahl der aktiv Pfeifenden in Deutschland von knapp 80.000 auf 44.000 fast halbiert.
In Bayern sank die Zahl laut einer BFV-Veröffentlichung seit der Jahrtausendwende um über 25 Prozent von (um "Karteileichen" bereinigt) 13.379 auf rund 9.700, die tatsächlich regelmäßig auf dem Platz stehen. "Und von diesen sind 2653 über 60 Jahre alt", sagt Keller, der nur ab Landesliga aufwärts einen "knallharten Konkurrenzkampf" von ausreichend vielen Schiedsrichtern ausmacht. "An der Basis ist da nicht viel". Auch nicht in Unterfranken, wo im letzten Jahrzehnt von knapp über 2000 Schiris wenigstens noch gut 1700 über sind.
Was die vom BFV auf der eigenen Homepage als Erfolg präsentierten Meldezahlen wert sind, dürfte sich erst in zwei, drei Jahren zeigen. "Die Wahrheit liegt auf dem Platz", räumt Verbands-Schiedsrichterobmann Sven Laumer ein - und meint genau diese stark auseinander klaffenden Theorie-Praxis-Zahlen wie in Schweinfurt. Die theoretische Online-Ausbildung, während der Corona-Zeit in Mode gekommenen, habe "neue Zielgruppen erschlossen, da sich das Ausbildungskonzept dem digitalen Zeitgeist" angepasst habe. Elementar sei nun die "Integration der ausgebildeten Unparteiischen in unsere Schiedsrichtergruppen, wo sie auch ihre Praxis-Ausbildung absolvieren."
Der 15-jährige Yasin Ögütcü aus Bergrheinfeld als Vorzeige-Schiedsrichter
Wie in der Gruppe Schweinfurt, wo von den sieben Übriggeblieben nur zwei über 40 sind, das Gros Jugendliche. Wie Yasin Ögütcü. Der ist 15, bei der Anmeldung war er elf (!) und spielte Fußball für den TSV Bergrheinfeld. Sein Trainer hatte ihm gesteckt, dass da ein Kurs in Grafenrheinfeld stattfinden würde. "Da hab ich mir gedacht: klingt interessant, ich mach mal mit" - und ist mit dem Fahrrad zur damals noch Präsenzveranstaltung gefahren. Er hat bestanden, als einer von 16 der Rekord-Gruppe im ersten Anlauf. Nur: "Pfeifen durfte ich erst ab 12. Ich konnte es kaum erwarten."
Das erste Jugendspiel war gleich ein Schweinfurter Stadt-Derby: zwischen den U-13-Teams der Freien Turner und der DJK. Ohne den zur Begleitung eingeteilten "Paten", der nicht erschienen war. "Mitte der zweiten Halbzeit ist der Schiri, der für das Spiel danach vorgesehen war dazu gekommen." Gott sei Dank: Denn so souverän wie Ögütcü die Aufgabe auch gelöst hatte, zum Ende hin eskalierte die Partie - nicht auf, sondern neben dem Platz von Seiten einiger Eltern. Den Zwölfjährigen hat's nur im ersten Moment mitgenommen, auf dem Heimweg dachte er ans Aufhören - am nächsten Tag überwog Trotz: "Euch zeig ich's."
Die nächsten Spiele liefen reibungslos und Ögütcü durfte schnell auf sich aufmerksam machen. Inzwischen winkt er bis zur B-Jugend und ist als Schiedsrichter-Assistent im Bezirksliga-Gespann bereits bei den Männern im Einsatz. Heinrich kann sich vorstellen, dass der Junge demnächst - anfangs mit Betreuung - selbst ein Männer-Spiel leitet. "Wenn er dran bleibt, sind die Chancen gut, dass er nach oben kann", so Keller. Ögütcü hat den Spaß am Pfeifen nicht verloren, hat auch nie Gewalt oder rassistische Vorfälle erlebt. Wenn's Ärger gibt, klärt der Junge das auf die ruhige Art. Erst zweimal zückte er Rot.
Keller schätzt diese unaufgeregt Souveränität: "Unsere Spitzenschiedsrichterin Davina Lutz hat mir mal gesagt, ihr Selbstbewusstsein sei durch die Schiedsrichterei gestiegen." Ögütcü nickt: "Ich bin schon durch die Größe leichter eine Respektsperson. Aber durchs Pfeifen ist mein gesamtes Auftreten souveräner geworden." Deswegen sagt er auch im Brustton der Überzeugung: "Ich möchte als Schiedsrichter so weit hoch kommen wie möglich." Dass er eine Ausbildung zum Kfz-Mechatroniker angefangen hat, soll kein Grund zum Aufhören sein.
Stark verändertes Freizeit-Verhalten durch die Corona-Zeit
Fürs Aufhören gibt's machen Grund. Damals in der Schweinfurter "Super-Group" sei der Anfang einer Fehlentwicklung, so Keller, gewesen, dass eine komplette Grafenrheinfelder Jugendmannschaft mit rund 30 Personen gemeldet habe, nur weil es des Trainers Wunsch war. Da seien Einige dabei gewesen, die selbst bei bestandener Prüfung nie vorgehabt hätten, ein Spiel zu pfeifen. Das durch Corona stark veränderte Freizeitverhalten habe seinen Teil dazu beigetragen.
Und dann sei da noch eine kontraproduktive Entwicklung innerhalb des BFV, die Keller in Staunen versetzt: "Warum gestalte ich die Prüfungsanforderungen bei den Neulingskursen immer schwieriger, wenn gerade an der Basis Leute fehlen? Da muss man mal Fünf gerade sein lassen. Die Alternative ist, dass wir in der B- oder A-Klasse immer mehr Spiele unter Leitung von Vereinsvertretern ansetzen müssen."
Höhere Aufwandsentschädigung für Schiedsrichter in den Amateurklassen?
Und letztlich geht's auch ums Geld. Selbst wenn ein 15-Jähriger wie Ögütcü zufrieden ist mit der gängigen Aufwandsentschädigung, sich eine teure Uhr - sein ganzer Stolz - zusammensparen konnte: In Zeiten einer Mindestlohn-Diskussion kann das Geld ein Faktor für junge Erwachsene sein. Keller rechnet vor, dass um die 40 Euro nicht eben fürstlich seien für einen Einsatz, zu dem man neben der Spielzeit Fahrt sowie Vor-und Nachbereitung rechnen müsse und so auf vier, fünf Stunden käme. "Gerecht wären mindestens 70 Euro."
Kurios: In Österreich beträgt der Satz 69 Euro im unteren Amateurbereich - bayerische Grenzgänger seien da lieber ins Nachbarland getingelt, bis es der Verband untersagt hat. Der BFV wünscht sich, das machte Kern deutlich, bessere Entlohnung, gleichwohl Vereine das anders sehen könnten. Auch da ist Keller ein Freund klarer Worte: "So lange Vereine in der A- oder Kreisklasse das Geld für Trainergehälter von um die 500 Euro haben, sollten 150 Euro für zwei Heimspiele im Monat kein Problem sein." Dem pensionierten Ex-Vorsitzenden des Kommunalunternehmens Wernecker Krankenhaus sind finanzielle Auswüchse ohnehin ein Graus: "Dem Fußball wird es erst wieder besser gehen, wenn es den Menschen noch schlechter geht."
Demographische Veränderungen, Klimawandel, Energiekrise, Corona, Digitalisierung oder neues Freizeitverhalten der Menschen: Die gesellschaftlichen und ökologischen Herausforderungen in einer digitalisierten Welt betreffen auch den Fußball. Die Veränderungen beleuchtet diese Redaktion in der Serie „Fußball im Wandel“, die in loser Folge erscheint.