Katharina L. ist Augenzeugin des Messerangriffs in Würzburg. Sie will erzählen. Von der Angst, den Albträumen, den Panikattacken. Was sie am 25. Juni sah, hat ihr Leben verändert. Sie will auch deshalb erzählen, weil sie eine Botschaft hat. Sie will Menschen, die wie sie die Bluttat am Barbarossaplatz miterleben mussten, sagen: "Holt euch Hilfe, macht das nicht mit euch alleine aus!"
Katharina L. ist ein Pseudonym. Ihr Name ist der Redaktion bekannt, doch die 52-Jährige will anonym bleiben.
Sie sitzt in der Praxis von Psychotherapeutin Dr. Marion Schowalter am Würzburger Dominikanerplatz, rund 300 Meter vom Tatort entfernt. Schowalter hat Katharina L. mit der Akut-Traumatherapie EMDR behandelt. Das Kürzel steht für "Eye Movement Desensitization and Reprocessing", zu deutsch "Desensibilisierung und Verarbeitung durch Augenbewegungen". Die wissenschaftlich anerkannte Therapieform wurde vor über 30 Jahren in den USA entwickelt.
Viele Bilder im Kopf - schreckliche und weniger belastende
Jetzt, nach der Behandlung und sechs Wochen nach dem schrecklichen Ereignis, bei dem drei Menschen getötet und mehrere teils lebensgefährlich verletzt wurden, ist sich Augenzeugin Katharina L. sicher: "Ich habe es gut verarbeitet."
"Es", das ist ein schreckliches Bild: Ein Mann zieht ein Messer aus dem Körper einer Frau. "Ich weiß, dass sie überlebt hat", sagt die 52-Jährige. Ein Trost. "Aber ich habe noch nie so viel Blut gesehen."
In Erinnerung sind ihr weitere Bilder, auch weniger belastende. Etwa, dass viele Passanten sofort geholfen haben: "Ein Mann hat sein Hemd ausgezogen und auf die Wunde der Frau gelegt."
Arbeitsplatz nur wenige Meter vom Tatort entfernt
Ihr Arbeitsplatz ist nur wenige Meter vom Tatort, dem Kaufhaus Woolworth, entfernt. Ihre Kollegin, sagt Katharina L., habe durchs Fenster die vielen flüchtenden Menschen gesehen und geschrien: "Der sticht zu!" Dann schaute auch sie aus dem Fenster.
"Wir haben schnell den Eingang verschlossen. Wir haben uns nicht mehr rausgetraut. Und wir wussten ja nicht, was los ist."
Irgendwann kommen zwei Polizisten. Durch die Hintertüre begleiten die Beamten die beiden Frauen zur Zeugenbefragung in eine nahegelegene Gaststätte. "Dort waren viele Menschen, auch junge. Es wurde sehr viel geweint", sagt die 52-Jährige.
Seelsorger und Sanitäter hätten sich gekümmert, Getränke angeboten. Die Notfallversorgung sei sehr gut gewesen. Ihr Mann habe sie später abgeholt und nach Hause, im südlichen Landkreis Würzburg, gebracht. "Ich habe nur geredet, ich konnte nicht schweigen. Mein Mann musste sich alles mehrfach anhören."
Reden sei eine Form der Verarbeitung, sagt Psychotherapeutin Marion Schowalter. Doch nicht immer reiche das.
Bei Katharina L. kommen die Angstzustände am Wochenende nach der Tat. Die Alpträume. Die Schreie ihrer Kollegin gellen ihr ständig im Kopf: "Sie hat andauernd meinen Namen gerufen. Katharina! Katharina!"
Dann diese Nacht: "Ich träumte, ich bringe andere Menschen um." Das ist zu viel. Katharina L. lässt sich krankschreiben. Nach einer Woche aber will sie nicht mehr zu Hause bleiben, will lieber wieder arbeiten. Sie weiß jedoch nicht, ob sie stabil genug ist.
Als sie in einer Mittagspause sieht, wie eine Frau ein Messer, das sie wohl gerade gekauft hat, anschaut, ist es vorbei. "Alles ist wieder hochgekommen." Katharina L. hat eine Panikattacke.
Kurz darauf besucht sie die Infoveranstaltung, zu der die Stadt Würzburg alle vom Messerangriff betroffenen Personen eingeladen hatte. Dort hört sie Marion Schowalter - und entschließt sich danach sofort für eine Trauma-Behandlung.
Am nächsten Tag meldet sich die Augenzeugin telefonisch bei der Trauma-Ambulanz der Universität in der Klinikstraße. Eine Psychologin rät ihr, sich nicht zu Hause zu vergraben, sondern wieder nach Würzburg zu gehen. Und sie vereinbart mit Katharina L. einen Termin bei einer Therapeutin. "Das ging sehr schnell. Am übernächsten Tag war ich bei ihr." Auch den Rat, keinesfalls die Stadt zu meiden, befolgt die 52-Jährige. Mehrmals fährt sie nach Würzburg, geht sogar direkt zum Tatort. "Zusammen mit meinem Mann habe ich eine Kerze für die Opfer angezündet."
Die erste Sitzung bei einer Würzburger Therapeutin ist ein längeres Gespräch. In der zweiten folgt die EMDR-Therapie. "Danach ging es mir viel besser", sagt Katharina L. Aber sie blickt sich in dieser Zeit noch oft um: Was ihr nach wie vor Angst bereitet, ist das Gefühl, dass jemand hinter ihr stehen könnte und sie bedroht.
Als Katharina L. nach einiger Zeit an ihren Arbeitsplatz zurückkehrt, fühlt sich alles gut an – bis sie Polizeiautos hört, die am Barbarossaplatz mit lautem Martinshorn zu einem Einsatz fahren. Sofort ist die Angst ist wieder da. Katharina L. meldet sich erneut bei der Trauma-Ambulanz – und bekommt erneut gleich einen Termin vermittelt, dieses Mal bei Marion Schowalter. Wieder wird sie mit EMDR behandelt. "Seit dieser Sitzung bin ich angstfrei. Ein wunderschönes Gefühl."
Dieser Polizeieinsatz sei "ein massiver Trigger" gewesen, erklärt die Psychotherapeutin. Er habe die erneute Angstattacke ausgelöst. Immerhin, sie sei längst nicht mehr so stark gewesen wie die Attacken direkt nach dem 25. Juni."Nach EMDR wird ein Trauma leichter, man kann darüber reden, gewinnt Distanz, fast so, als wäre man nicht vor Ort gewesen", sagt Schowalter.
Geblieben ist Katharina L. eine erhöhte Aufmerksamkeit für ihr Umwelt. "Ich schaue jetzt immer genau, wer auf mich zukommt."