Der 24-jährige Somalier, der am 25. Juni in Würzburg drei Frauen mit einem Messer getötet und mehrere Menschen teils schwer verletzt hat, ist nicht mehr im Gefängnis. Am Dienstag wurde er auf Anordnung des Amtsgerichts Würzburg in ein psychiatrisches Krankenhaus verlegt. Das teilten die Generalstaatsanwaltschaft München und das LKA mit. Nach Informationen der Redaktion handelt es sich bei der Klinik nicht um eine Einrichtung in Unterfranken.
Nach der bisherigen psychiatrischen Begutachtung komme man zu der Einschätzung, "dass der Beschuldigte zur Tatzeit möglicherweise schuldunfähig war". Nun sollen "zwei renommierte Sachverständige" den Täter untersuchen.
Was Hintergründe des Messerangriffs angeht, konnten die Ermittler nicht mehr Licht ins Dunkel bringen. Fachpersonal für Deradikalisierung, darunter Islamwissenschaftler, "arbeiten an einer Bewertung, ob und inwieweit religiöse Überzeugungen des Beschuldigten bei der Tat eine Rolle gespielt haben könnten", so die Ermittler. Die Auswertung der Handys des Täters habe "bislang weder Hinweise auf Propagandamaterial oder sonstige extremistische Inhalte noch auf etwaige Mittäter oder Mitwisser" ergeben. Auch Papierzettel, die nach der Tat am Tatort gefunden worden seien, "entpuppten sich als unverdächtig".
Außerdem liegt nun zwar das Ergebnis eines toxikologischen Gutachtens vor, das unter anderem klären sollte, ob der Täter während der Tat unter Drogeneinfluss stand. Es habe jedoch "keine relevanten Ergebnisse" gebracht.
Eine Rekonstruktion der Monate vor der Tat
Wie Recherchen zeigen, lebte der spätere Täter ein gutes Jahr lang unauffällig in einer Obdachlosenunterkunft im Würzburger Stadtteil Zellerau, ohne dass sein Verhalten auffiel. Am 12. Januar wird er aggressiv.
Laut Claudia Lother, Pressesprecherin der Stadt Würzburg, beleidigt er an diesem Tag erst Mitarbeiter des Sozialreferats. "Anschließend bedrohte er zwei Mitarbeitende mit einem Messer. Diese konnten sich zurückziehen und die Polizei rufen." Die Beamten nehmen den Mann mit, später kehrt er zurück in die Obdachlosenunterkunft.
Zeuge meldet sich bei Dresdner Polizei – Zufall?
Am nächsten Tag hat er erneut ein Messer in der Hand. Dieses Mal steht er vor der Unterkunft und bedroht zwei Mitarbeiter. Wieder wird die Polizei gerufen. Weil von dem Mann eine Fremdgefährdung ausgeht, verfügt das Ordnungsamt die sofortige, vorläufige Unterbringung in der Psychiatrie. Ein Streifenwagen bringt ihn ins Zentrum für Seelische Gesundheit (ZSG) in Würzburg.
Etwa zur gleichen Zeit meldet sich in Dresden ein ehemaliger Mitbewohner des Täters bei der Polizei. Er erzählt von einem Telefonat, das er 2015 mitgehört haben will. Darin soll der Somalier erzählt haben, er habe in seiner Heimat in den Jahren 2008/2009 für die Terrororganisation al-Shabaab Zivilisten, Journalisten und Polizisten getötet. Die Generalbundesanwaltschaft sieht jedoch "mangels konkreter Tatsachen" von Ermittlungen ab – zumal der Beschuldigte zum angeblichen Tatzeitpunkt erst elf oder zwölf Jahre alt und damit strafunmündig gewesen war. Dennoch werden laut Generalstaatsanwaltschaft München sowohl die Kriminalpolizei Unterfranken als auch der Bayerische Verfassungsschutz über die Sache informiert.
Doch warum meldet sich der Zeuge im Januar 2021 – sechs Jahre nach dem ominösen Telefonat? Das ist den Ermittlern bis heute unklar. Die Aussage des Zeugen habe jedoch "nicht im Zusammenhang mit dem Vorfall in der Obdachlosenunterkunft im Januar 2021" gestanden, teilt die Generalstaatsanwaltschaft München mit.
Nur selten in der Obdachlosenunterkunft
Nach seiner Entlassung aus dem ZSG Ende Januar bemerken die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Obdachlosenunterkunft zunächst keine weiteren aggressiven Ausbrüche des 24-Jährigen. Allerdings ist er auch nicht so oft dort. Wie das Amtsgericht Würzburg mitteilt, kann man den psychisch kranken Mann im Frühjahr nicht unter Betreuung stellen, weil man ihn mehrfach nicht in der Unterkunft antrifft. Auch die Begutachtung seines Zustands scheitert unter anderem daran.
Von was der spätere Täter in diesen Monaten gelebt hat, beantwortet die Würzburger Agentur für Arbeit nicht. Die Behörde ist für die Auszahlung von Grund- und Sachleistungen zuständig, äußert sich zum konkreten Fall aus Gründen des Datenschutzes jedoch nicht. Bis Ende 2020 soll er nach Informationen dieser Redaktion Leistungen bezogen haben, später habe er zumindest ab und zu gearbeitet – so etwa um den Jahreswechsel 2020/21 einige Wochen lang als Hilfsarbeiter in einem Unternehmen in der Region.
Immer wieder Ärger in Unterkunft
Wo der 24-Jährige in den Monaten vor der Tat lebt, wissen die Sozialarbeiter der Stadt nicht. "Wo er sich konkret aufgehalten hat, und um welche Zeiträume es sich handelt, ist uns nicht bekannt", sagt Pressesprecherin Lother dazu. Die Unterkunft sei kein Heim, in dem sich Bewohner ab- und anmelden müssten. Vielleicht könnten Mitbewohner dazu mehr sagen.
Doch diese kann man im Moment nicht dazu befragen. Die Türen des Wohnhauses in der Zellerau sind zu. Im Hof sieht man keine Menschen, sondern nur ein Pavillionzelt unter dem die Mitarbeiter eines privaten Sicherheitsdienstes sitzen und den Eingang kontrollieren. Dies hat aber nichts mit dem Messerangriff zu tun. Der Sicherheitsdienst sorgt schon seit 2020 dort für Ordnung, weil teils aggressive Auseinandersetzungen unter den knapp 100 Bewohnern immer häufiger vorkommen.
Mitarbeiter des Sozialreferats rücken mit Polizei an
Auch der 24-Jährige zeigt bald wieder ein aggressives Verhalten. Mitte Juni, wenige Tage vor der Tat, bemerken das Mitarbeiter in der Unterkunft. "Er schlug Türen auf und zu, schlug und trat gegen Wände und Türen und schrie", berichtet Stadtsprecherin Lother. Etwa um die selbe Zeit, am 14. Juni, steigt er laut Generalstaatsanwaltschaft in der Würzburger Innenstadt unvermittelt in das Auto eines 59-Jährigen und setzt sich auf den Beifahrersitz. Der Fahrer spricht den 24-Jährigen mehrfach an, bekommt aber keine Antwort und ruft schließlich die Polizei. Doch auch auf die Ansprache der Beamten reagiert der bis dato Unbekannte nicht. Das Ordnungsamt lässt ihn ins ZSG einweisen. Die Klinik verlässt er am Tag darauf auf eigenen Wunsch.
Immer wieder steht im Raum, den Mann wegen psychischer Auffälligkeiten unter Betreuung zu stellen. Am 23. Juni wird laut Amtsgericht Würzburg eine Sachverständige mit der Begutachtung des 24-Jährigen betraut. Am Mittwoch vor der Tat wollen ihn daher Mitarbeiter des Sozialreferats besuchen. Aufgrund der Vorfälle im Januar ist man vorsichtig: Obwohl eine Person des Sicherheitsdienstes vor Ort ist, begleitet eine Polizeistreife die Mitarbeiter des Sozialreferats, als sie an die Zimmertür des Mannes klopfen. Der ist allerdings wieder nicht da.
Am Tattag steigt der Täter erneut in das Auto eines Fremden
25. Juni, der Tag des Messerangriffs, kurz nach 3 Uhr. Am Würzburger Stadtrand ist ein Mann nach einer Nachtschicht in seinem Auto auf dem Nachhauseweg. Plötzlich wird er von dem 24-Jährigen angehalten – "und zwar so, dass ich anhalten musste", schildert der Mann die Situation gegenüber der Redaktion. Der Somalier steigt sofort ein, setzt sich auf die Rückbank. Der Autofahrer steigt aus, versucht mit dem ihm Unbekannten zu reden – ohne Erfolg: "Er hat nicht reagiert, hat stark gezittert und hat einen hilflosen Eindruck gemacht. Er war wie auf Drogen", erzählt der Zeuge. Als nach dem Messerangriff Fotos des Täters kursieren, erkennt er ihn sofort wieder. "Er hatte dieselben viel zu großen Klamotten an", sagt der Zeuge. Inzwischen hat der Mann eine Aussage bei der Polizei gemacht.
Die Begegnung des Autofahrers mit dem Mann, der noch am selben Tag zum Messerstecher wird, ist nur kurz: Nach zwei Minuten steigt der Fremde wieder aus, läuft weg. Was er in den folgenden 14 Stunden tut, ist noch unklar. Gegen 17 Uhr betritt er ein Kaufhaus am Barbarossaplatz.