Auch Menschen, die beim Messerangriff am 25. Juni in Würzburg zwar nicht verletzt wurden, aber brutale Szenen miterlebt haben, sind Opfer – und traumatisiert. Furchtbare Bilder haben sich in ihren Kopf gebrannt. Nicht verdrängen, sondern sich schnell Hilfe suchen, lautet der Rat von Dr. Marion Schowalter. Die Psychologische Psychotherapeutin hat nach dem schrecklichen Ereignis ein Hilfsprojekt mit Unterstützung der Stadt Würzburg initiiert: eine Akut-Traumatherapie.
Alle betroffenen Personen, auch Augenzeuginnen und Augenzeugen des Messerangriffs, erhielten laut Schowalter wenige Tage nach dem Messerangriff eine Einladung zu einer Informationsveranstaltung in Würzburg. Dort wurden Hilfsmaßnahmen vorgestellt und Wege aufgezeigt.
Die Traumatherapeutin nennt als "potenteste Therapie" EMDR. Die Buchstaben stehen für die englische Bezeichnung "Eye Movement Desensitization and Reprocessing" - Desensibilisierung und Verarbeitung durch Augenbewegungen. Die wissenschaftliche anerkannte Methode ist das Mittel der Wahl bei einer Akuttherapie, sagt Schowalter. Mit hoher Erfolgsquote. Damit Traumatisierte schnell Hilfe erhalten konnten – und noch können -, hat sie rund 15 Therapeutinnen und Therapeuten in der EMDR-Methode geschult. Wie diese Methode genau funktioniert, erklärt sie im Interview.
Marion Schowalter: Durch EMDR werden belastende innere Bilder und Erlebnisse verarbeitet – und das in nur wenigen Sitzungen. Nach einer Behandlung fühlen sich die Patienten deutlich entlastet. Als besonders effektiv hat sich die Methode bei akuter Traumatisierung wie zum Beispiel bei den Betroffenen der Messerattacke gezeigt.
Schowalter: Das Gehirn verarbeitet das Trauma über die Augenbewegung beziehungsweise sucht nach einer Möglichkeit, um die schrecklichen Gefühle aufzulösen. Diese Bewegungen der Augen beziehungsweise der Pupillen von rechts nach links werden vom Therapeuten angeleitet. Entweder folgen die Augen den beiden erhobenen Fingern der Therapeuten oder - aufgrund der durch die Corona-Pandemie bedingten Abstandsregeln - einem künstlichen Lichtsignal auf einer waagrechten Stableuchte.
Schowalter: Es geht bei EMDR um eine bilaterale beziehungsweise Rechts-Links-Stimulation. Wenn ich gehe oder jogge, dann bin ich auch in diesem Modus unterwegs. Der Effekt ist: Man bekommt den Kopf frei. Andere gehen spazieren oder begeben sich auf eine Pilgerreise, um sich über manche Sachen klar zu werden. Die Forschung sucht noch nach der genauen Erklärung dafür. Aber dass die Recht-Links-Bewegung bei EMDR wirkt, ist belegt – und das zu mindestens 80 Prozent. Das ist für eine Psychotherapie ein guter Erfolg.
Schowalter: EMDR sollte von anerkannten Therapeuten durchgeführt werden, die einen geschützten Raum bieten können, in dem Menschen ihr Trauma wiedererleben. Zuerst gibt es ein Gespräch. Danach Sequenzen von etwa 30 Sekunden bis zu einer Minute, in denen zum Beispiel das Lichtsignal läuft. Dann schaut man, wie die Verarbeitung vorangeschritten ist. Gibt es neue Bilder, neue Körpergefühle? Während des Lichtsignals wird nicht geredet, weil dabei ein emotionaler Prozess abläuft. Wenn das Signal stoppt, gibt der Patient eine Orientierung an den Therapeuten. Ich frage: Was ist jetzt da? So weiß ich, wo meine Patienten stehen. Dann kommt der nächste Schritt. Als Therapeutin begleite ich diesen Prozess. Ich greife nicht ein, sondern vertraue, dass das Gehirn zu einem guten Ende kommt.
Schowalter: EMDR wird inzwischen bei sehr vielen verschiedenen Störungsbildern eingesetzt. Zum Beispiel ist EMDR bei Schmerzen sehr effektiv, auch bei Phantomschmerzen. Sie sind ja nichts anderes als Erinnerungen an den Schmerz. Ebenso wirkt EMDR bei Depressionen oder bei einer Angstproblematik. Selbst länger zurückliegende Mono-Traumata, etwa eine Vergewaltigung, sind mit EMDR sehr gut behandelbar.
Schowalter: Zu unserer Veranstaltung kamen fast 100 Menschen, Hilfe gesucht haben bislang etwa 25. Es melden sich aber immer noch Betroffene, die erst dachten, sie kommen alleine mit dem Erlebten klar. Das ist jedoch eher nicht der Fall.