Unter den Folgen einer Gewalttat wie dem Würzburger Axt-Attentat im Juli 2016 oder dem Würzburger Messerangriff im Juni 2021 leiden nicht nur unmittelbar Betroffene, sondern auch Augenzeugen, Helfer oder Menschen aus dem Täterumfeld. Dies betont Professor Jürgen Deckert, der Leiter der Klinik für Psychiatrie am Uniklinikum Würzburg. Zwar könnten die meisten Menschen "ihre eigenen Ressourcen nutzen", um den Stress oder den Schock nach einer solchen Gewalterfahrung zu verarbeiten; zahlreiche Menschen aber bräuchten kurzfristig oder manchmal auch langfristig professionelle Hilfe.
Manchmal realisierten Betroffene erst am Jahrestag der Gewalttat oder sogar mehrere Jahre nach der Gewalterfahrung, wie stark sie das Erlebte gezeichnet habe. "Das haben wir nach dem Amoklauf von 2016 gelernt", sagt Deckert. "Genauso wie die Psychiatrien in Lohr und Werneck auch haben wir versucht, uns den Herausforderungen zu stellen, um Betroffene besser unterstützen zu können."
Notfallplan bei Gewalt-Lagen
In der Folge des Würzburger Axt-Attentats 2016 hat die Würzburger Uni-Psychiatrie zahlreiche Mitarbeiter in der Traumatherapie weitergebildet und einer Reihe von Kräften die Ausbildung zum Traumatherapeuten ermöglicht. Weiterhin hat die Klinik für den Fall eines "Massenanfalls Verletzter" eine Art Amok-Plan entwickelt. Er sieht vor, dass schnell Dienstteams für die Betreuung von Tatbetroffenen bereitstehen.
Noch am Abend des Messerangriffs am 25. Juni habe die Uniklinik drei Betreuungsteams, jeweils bestehend aus einem Oberarzt und einem Assistenzarzt, mobilisiert – zusätzlich zu den Kriseninterventionsteams, die in Würzburg vor Ort zum Einsatz kamen. Gerade in der akuten Phase unmittelbar nach einer Gewalttat sei psychologische oder psychiatrische Hilfe besonders wichtig, um spätere Traumata zu verhindern, so Deckert.
Warum Akutintervention wichtig ist
Direkt nach einer Krise versuchen Therapeuten den Hilfesuchenden zu vermitteln, "dass die schreckliche Situation, in der sie sich befunden haben, nicht weitergeht, sondern abgeschlossen ist", sagt Deckert. Gerade nach so einer Stress-Situation sei es wichtig, sich nicht zurückzuziehen, sondern möglichst seinen Alltags-Rhythmus weiter zu leben, seine sozialen Kontakte zu pflegen, ins eigene Leben wieder einzutauchen. "Das heißt nicht, dass der Mensch eine solche Erfahrung verdrängen soll. Aber es muss bewusst werden, dass die Gewalttat vorbei und abgeschlossen ist."
Schon nach dem Axt-Attentat vor fünf Jahren haben die Mitarbeiter der Würzburger Psychiatrie gesehen, dass etliche Betroffene "über die akute Stressreaktion hinaus eine Stressanpassungsproblematik haben"; dass sie also länger als 48 Stunden sich extrem stark belastet fühlen und etwa Flashbacks erleben.
Professor Deckert: "Der Angriff war diesmal im öffentlichen Raum"
In den vier Wochen nach dem Messerangriff vom Juni, den Deckert als "ungleich dramatischer, ungleich schlimmer" als das Axt-Attentat bewertet, haben sich in den zwei psychologischen Ambulanzen der Uni-Psychiatrie bereits rund 15 Hilfesuchende gemeldet. "Man muss ja sehen, dass diesmal der Angriff im öffentlichen Raum stattfand, es Hunderte von Zeugen gab. Einzelne Menschen haben die Tötungen gesehen, waren dem Anblick der Getöteten lange ausgesetzt. Die Betroffenheit ist viel größer."
Deckert rechnet damit, dass zahlreiche Personen nach dem Messerangriff in Zukunft psychiatrische Hilfe in Anspruch nehmen werden. Deshalb will die Unipsychiatrie die bisherige Hochschulambulanz der Medizinischen Psychologie in der Klinikstraße 3 in Würzburg auch zeitnah zur Trauma-Ambulanz ausbauen. Bereits jetzt ist diese Ambulanz die Hauptanlaufstelle der Uni-Psychiatrie für Hilfesuchende im Zusammenhang mit dem Messer-Angriff.
Dass nach einer Gewalttat langfristige Therapie nötig sein kann, hat Deckert bereits nach dem Axt-Attentat erlebt. An seiner Klinik wurden in den letzten Jahren nicht nur die verletzten chinesischen Opfer dieses Attentats psychiatrisch betreut, sondern auch eine Reihe von Personen aus dem Umfeld des jungen Täters. "Hätte ich nicht merken müssen, dass er gefährlich ist? Hätte ich die Tat verhindern können, wenn ich genauer hingeschaut hätte?" Solche Fragen, solche Gewissenskonflikte können laut dem Würzburger Psychiatriechef auch Menschen aus dem weiteren Umfeld eines Täters viele Jahre lang belasten.
Posttraumatische Belastungsstörung: Flashbacks können getriggert werden
Denn auch posttraumatische Belastungsstörungen können langfristig nach dem Erleben einer Gewalttat auftreten. Dabei besteht laut Deckert das Problem darin, dass "das Trauma frei im Gedächtnis unterwegs ist und jederzeit durch irgendwelche Trigger aktiviert werden kann; etwa schon durch entsprechende Filmszenen. Und dann sind die Leute wieder mitten in der schrecklichen Situation, die sie erlebt haben und haben Flashbacks." Therapeutisch werde dann versucht, das "Trauma biographisch wieder in der Vergangenheit zu verorten".