Entsetzen, Trauer und Fassungslosigkeit. Vielleicht auch Angst oder Wut. Der Messerangriff am Würzburger Barbarossaplatz hat bei Menschen weit über die Region hinaus starke Emotionen ausgelöst. "Es kann mich und die Sicht auf meine Welt verändern, wenn ich ein solches Trauma wie in Würzburg erlebe", sagt Dr. Roxane Sell, Psychologin und Traumatherapeutin am Zentrum für Psychische Gesundheit der Uniklinik Würzburg. Das gelte nicht nur für Opfer und Augenzeugen, sondern auch für Angehörige, Bekannte oder Freunde von Betroffenen. Wie können sie mit einem solchen Ereignis umgehen? Ein Gespräch über Traumaverarbeitung, die Gefahr vor der Haustüre und mögliche Hilfsangebote.
Dr. Roxane Sell: Man muss hier unterscheiden zwischen Betroffenen, die so ein Ereignis direkt erleben, und Menschen, die davon hören oder es in den Medien sehen. Unmittelbar werden zwar in beiden Fällen Gefühle wie Angst, Hilflosigkeit und Entsetzen ausgelöst – allerdings in verschieden großem Ausmaß. Vor allem wenn man Augenzeuge ist, sich vielleicht in unmittelbarer Nähe zum Täter befindet und sich oder andere in Sicherheit bringen muss, kann ein massives Bedrohungserleben entstehen. Das betrifft auch Polizisten oder Rettungskräfte, die in einer solchen Situation zum Einsatz kommen.
Sell: Wenn Menschen eine solche Tat direkt miterleben, findet eine starke körperliche Reaktion statt: Es werden sofort sehr viele Stress- und Angsthormone ausgeschüttet, das Angstzentrum im Gehirn läuft auf Hochtouren. Man befindet sich in einer Alarmsituation. Das unmittelbare Gefühl, wenn man in eine derart lebensbedrohliche Situation kommt, ist Angst, bei der späteren Verarbeitung können dann auch Emotionen wie Schuld oder Ärger eine Rolle spielen.
Sell: Nachdem die erste Reaktion im Körper abgeklungen ist, wird versucht, das Erlebte zu verarbeiten. Dabei laufen unterschiedliche kognitive Prozesse ab – und es kann sein, dass manche Menschen Schuld empfinden. Zum Beispiel hat eine Frau, die sich mit ihrem Kind in Sicherheit gebracht hat, berichtet, dass sie später Schuldgefühle spürte, weil sie nicht geholfen hatte. Dazu kommt es aber erst, wenn die Bedrohung abgenommen hat. Das ist eine posttraumatische Verarbeitung, die eine zusätzliche Belastung darstellt.
Sell: Ja, auf jeden Fall. Es gibt ganz klare Kriterien dafür, was ein Trauma ist. Man versteht darunter ein Ereignis von außergewöhnlicher Bedrohung oder katastrophalem Ausmaß, das bei fast jedem Menschen zu einer tiefgreifenden Verzweiflung oder einem Bedrohungserleben führen würde. Dabei wird man mit dem Tod oder einer Verletzung konfrontiert. All das erfüllt der Messerangriff in Würzburg ganz eindeutig – und zwar nicht nur für Menschen, die dabei waren. Sondern beispielsweise auch, wenn Angehörige erfahren, dass ein Familienmitglied schwer verletzt wurde oder zu Tode kam. Auch wenn man später unfreiwillig mit Bildern etwa in den Medien konfrontiert wird, wird das Traumakriterium erfüllt. Das spielt eine besondere Rolle bei Kindern.
Sell: Das hängt davon ab, was es bei Betroffenen auslöst. Es gibt Menschen, die reagieren in den ersten Minuten, Stunden oder Tagen mit einer akuten Belastungsreaktion. Sie können desorientiert sein, starke Angstsymptome zeigen, Schlafstörungen haben oder sich wie betäubt fühlen. Diese Symptome sind sehr unterschiedlich in der Art und der Stärke ihrer Ausprägung, sie klingen aber in der Regel spätestens nach zwei Tagen ab und müssen auch nicht zu Spätfolgen führen. Wichtig ist, dass sich Betroffene in ein sicheres Umfeld zurückziehen können und soziale Unterstützung bekommen. Es geht für sie darum, den Stress und die Erregung abzubauen. Dabei hilft es, wenn man selbstfürsorglich mit sich umgeht und sich zum Beispiel mit Freunden trifft, seine Routinen wieder aufgreift oder Hobbys ausführt. Auch eine kürzere professionelle Unterstützung im Sinne einer Krisenintervention kann bei stärkeren Reaktionen notwendig sein.
Sell: Das Bedürfnis, über ein Trauma zu sprechen, ist sehr individuell. Man sollte niemals Druck auf jemanden ausüben, der das nicht möchte. Wichtig ist das vor allem bei Erlebnissen, die erst kurz zurückliegen.
Sell: Unser Gehirn erlebt in einer solchen Ausnahmesituation ganz bedrohliche Bilder sowie körperliche und emotionale Reaktionen, und die muss es erst einmal einsortieren. Das dauert. Und es kann mich und die Sicht auf meine Welt verändern, wenn ich ein solches Trauma wie in Würzburg erlebe. Normalerweise denke ich, ich bin in Sicherheit, mir passiert nichts und andere Menschen sind gut – und plötzlich geschieht so etwas vor meiner Haustür. Das verschiebt die Wahrnehmung, es können kognitive Veränderungen stattfinden. Ob daraus später eine posttraumatische Belastungsstörung entsteht, hängt vor allem von der Schwere des Ereignisses ab. Wenn es kein Unfall oder Zufall war und womöglich mit Absicht von einem Menschen ausgelöst wurde, ist die Wahrscheinlichkeit für eine posttraumatische Belastungsstörung höher und liegt bei bis zu 20 Prozent.
Sell: Im Normalfall, bei einer gesunden Belastungsverarbeitung, wird das Erlebte ins Gedächtnis einsortiert. Es ist dann für den Betroffenen mit den entsprechenden Gefühlen und Gedanken abrufbar – aber es ist nicht übermächtig, es ist nicht so, dass man nicht aufhören kann, daran zu denken. Der Messerangriff ist ein emotionales Ereignis, bei der Erinnerung wird man immer Angst, Trauer oder Entsetzen empfinden, man wird es nicht vergessen. Aber man weiß, dass es in der Vergangenheit liegt, es wird verblassen und man wird im Normalfall eben auch keine anhaltenden Folgen davontragen.
Sell: Es ist in so einer Situation ganz wichtig, dass man nicht in ein Vermeidungsverhalten fällt. Wenn ich beispielsweise plötzlich das Gefühl habe, in der Stadt ist es nicht mehr sicher, und nur noch zuhause bleibe, wird meine Annahme schnell bestätigt. Denn zuhause passiert mir nichts und ich lebe weiter mit dem Gedanken "Gott sei dank bin ich nicht nach draußen gegangen, wer weiß, was sonst passiert wäre". Ich schränke dann mein Leben immer mehr ein. Auch Formen der Betäubung wie Alkohol oder Medikamente zählen zu solchem Vermeidungsverhalten. Besser ist es, sich bewusst wieder raus zu trauen und die Erfahrung zu machen, es ist doch sicher. Nur so kommt mit der Zeit das normale Gefühl zurück.
Sell: In der Vergangenheit vermutlich – ich glaube aber, dass sich das momentan verändert und sich auch schon stark verändert hat. Traumastörungen beziehungsweise Traumafolgestörungen können sehr unterschiedlich sein und haben sehr unterschiedliche Auslöser. Es gibt viele Arten von Traumatisierungen, beispielsweise durch Gewalt in der Familie oder Verkehrsunfälle. Das Angebot an traumaspezifischen Behandlungsmethoden, die übrigens eine sehr hohe Wirksamkeit besitzen, ist dafür immer noch zu gering. Wer einen Traumatherapeuten sucht, muss mit langen Wartezeiten rechnen.
Sell: Man weiß: Je mehr traumatische Erlebnisse ein Mensch mitmachen muss, desto wahrscheinlicher ist es, dass er eine Traumafolgestörung entwickelt. Geflüchtete haben oft vielfache Traumatisierungen erfahren und bekommen wahrscheinlich nur einen Bruchteil der Behandlungsangebote, die sie bräuchten.
Sell: Jeder kann Anerkennung geben und den Betroffenen zeigen, dass man die durch ein Trauma ausgelösten Gefühle ernst nimmt. Es gibt Menschen, die fühlen sich im Umgang mit Traumatisierten hilflos. Sie sagen dann Sätze wie "Ach, das war doch nicht so schlimm". Das ist natürlich Gift. Stattdessen könnte man Betroffenen im Freundeskreis oder in der Familie signalisieren, du kannst mit mir sprechen, wenn du magst, ich halte das aus. Allerdings muss man auch seine eigenen Grenzen beachten. Oder man ermutigt Betroffene zu gemeinsamen Unternehmungen, kümmert sich um sie und hilft ihnen so, sich im Hier und Jetzt zu orientieren.