
Bedächtige Ruhe liegt über dem Place de Caen an diesem Frühsommertag. Zwei Frauen tragen in Permanent-Tragetaschen ihre Einkäufe über den Platz, ein Jugendlicher dribbelt mit seinen Basketball, vor der Bäckerei wischt eine junge Frau die leeren Tische. Es ist still im sogenannten H1.
Der vordere Abschnitt des Heuchelhofs gilt seit Jahrzehnten als Würzburgs Problembezirk - wirklich dort war aber kaum je einer, der nicht selbst in den Hochhäusern lebt, die das Innenleben des Viertels fast schon behutsam vor dem Rest der Stadt abschirmen. Zwei Drittel der Menschen hier haben einen sogenannten Migrationshintergrund, nirgendwo sonst in der Stadt ist der Anteil höher. Die Hälfte hat ihre Wurzeln in der ehemaligen Sowjetunion. Ukrainer und Russen leben am Heuchelhof Tür an Tür, während sich die beiden Staaten erbittert bekriegen.
In den ersten Kriegstagen kochten die Gemüter hoch: Ein Autokorso, prorussische Schmierereien an der Gethsemanekirche und ein nicht abreißender Gerüchtestrom heizten den Stadtteil auf. Und jetzt, nach über 100 Tagen Krieg? Es herrscht Ruhe. Aber nicht auf die gute Art. Ein Spaziergang durch den H1.
Treffpunkt "Altes Schwimmbad": Quartiersmanagerin Hermine Seelmann nimmt wahr, dass viele Menschen verstummt sind

Früher war hier ein Schwimmbad, heute ist in der Den-Haager-Straße 18 der Stadtteil-Treffpunkt und der Arbeitsplatz von Quartiersmanagerin Hermine Seelmann. Sie ist seit 20 Jahren bestens vernetzt im Stadtteil und der russischen Community. "Als der Krieg an diesem Morgen im Februar losging, stand ich unter Schock und hab mich gleich gefragt: Was bedeutet das jetzt für den Heuchelhof? Wer bezieht jetzt wie Position?", erinnert sie sich.
Vor Putins Überfall wurde kaum unterschieden, wer welche Wurzeln habe, so ihr Eindruck. Auch wenn zwischen Russland und der Ukraine schon seit Jahren kein Frieden mehr herrscht, bis nach Würzburg war der Konflikt bis dato nicht geschwappt. Der Einmarsch der russischen Truppen änderte das: "Auf einmal haben die Menschen hier oben geschaut: Woher genau stammen eigentlich meine Nachbarn, meine Bekannten? Vorher waren hier alle Heuchelhöfer, dann kamen Unterschiede zu Tage."
Seelmann führt in den ersten Kriegstagen viele Gespräche, fängt Stimmungen auf und behält ihr offenes Ohr. "Mir wurde schnell klar, dass Putins Propaganda dafür gesorgt hat, dass viele den russischen Medien mehr vertrauen als den deutschen", sagt sie. Schnell wurde die Kommunikation schleppend: "Erst gab es kurze, heiße Schlagabtausche, es wurde diskutiert, die Stimmung war angespannt - dann wurde geschwiegen, bis jetzt. Die Leute halten mit ihren Meinungen hinter dem Berg."
Woran das liegt? "Unter anderem daran, dass Menschen, die in kommunistischen Ländern aufgewachsen sind, ganz anders sozialisiert sind als wir es hier kennen", sagt die studierte Slawistin. Eine "Schweigekultur" habe häufig die Kindheit der Menschen geprägt, politische Themen kamen zu Hause nicht auf den Tisch - auch, weil Ausplaudern von staatskritischen Haltungen sehr gefährlich sein konnte. "Jetzt fordert der Krieg plötzlich von jedem, sich irgendwie zu positionieren - da verfallen viele ins alte Schweigen. Die hier so hochgehaltene Meinungsvielfalt kann Menschen auch verunsichern."
Das treibe die Menschen auseinander, die am Heuchelhof so eng zusammenleben: "Freundeskreise sortieren sich neu, manche Treffen finden nicht mehr statt - und der eine oder andere kommt einfach gar nicht mehr", sagt Seelmann.
Ein verstummter Stadtteil - ausgerechnet hier, wo sogar die Stadtplaner in den 70er Jahren alles auf Kommunikation ausgelegt haben. Die Idee damals: Kaum Autos, viel Bewegungsfläche zwischen den Häusern, Spielplätze, Parkbänke und Treffpunkte für Jedermann im Freien als Alternative zu den engen Sozialwohnungen in den Hochhaustürmen - eine Baustruktur, die automatisch für Kommunikation zwischen den Bewohnern sorgen soll. Fünf Jahrzehnte ging das Konzept auf. Dann kam der Krieg.
Grundschule Heuchelhof: Schulsozialarbeiterin Carolin Pecher-Ghanizi sucht mit ihren Schützlingen nach dem gemeinsamen Nenner "Frieden"
Kinder aus über 20 Nationen zählen zu den Schützlingen von Carolin Pecher-Ghanizi, Jugendsozialarbeiterin an der Grundschule Hechelhof. Der Tag, an dem Putin die Ukraine angriff, war der vorletzte Schultag vor den Faschingsferien. Danach, sagt Pecher Ghanizi, "war alles anders. Eltern, Lehrer, auch die Kinder- alle waren plötzlich vorsichtig geworden und haben sich gefragt, was sie jetzt noch wo sagen dürfen".
Auseinandersetzungen zwischen russischen und ukrainischen Kindern seien ihr an der Grundschule nicht untergekommen. Vielmehr habe sich ein "gedämpfter Schwebezustand" breit gemacht. "Klar ist der Krieg in den Elternhäusern sehr präsent. Die Mutter weint vielleicht mehr, der Vater telefoniert besorgt oder wütend mit Verwandten - da passiert viel. Gerade deshalb muss die Schule ein sicherer Raum sein, in der es auch um andere Themen gehen darf - und das scheinen viele gerade dankbar anzunehmen."
Sie versuche, den Eltern klar zu machen: Bilder aus dem Krieg sind nichts für Grundschüler - egal woher sie kommen: "Wir dürfen nicht vergessen: Hier am Heuchelhof leben viele Kinder, die erst vor wenigen Jahren vor einem Krieg geflohen sind - und die jetzt hier sitzen und wahnsinnige Angst haben, weil all das auf einmal wieder so nah ist", sagt Pecher-Ghanizi. Ein Kind aus Syrien etwa fiel in den vergangenen Wochen in der Schule auf. Es stellte sich raus, dass die Familie jede Nacht auf gepackten Koffern schlief - bereit, sofort zu fliehen.
Ein Mittel gegen die Angst? "Wir schauen gemeinsam aufs Thema Frieden. Grundschüler können noch nicht über Politik reflektieren. Ihre Meinung ist meist die der Eltern. Da sind Loyalitätskonflikte zwischen Elternhaus und Schulfreunden vorprogrammiert. Deswegen suchen wir lieber nach einem gemeinsamen Nenner - das ist der Frieden."
Zwischen den Hochhäusern verläuft man sich leicht, nur die Details unterscheiden sie. Irgendwo hat jemand ein Peace-Zeichen an die Wand gesprayt. Eine ältere Frau sitzt auf der Bank. 2001 sei sie hierher gekommen, ihre Familie stamme aus Sibirien, erzählt sie. Die Tochter wohne hier, die Schwester ihres Mannes auch, "wir sind eine große Familie." Die Dame ist redselig und scheint Zeit zu haben. Bis die Frage kommt, was sie über den Krieg denkt. "Ich muss gehen", sagt sie noch, dann etwas auf russisch - und läuft mit schnellem Schritt davon.
Sportclub "Beweg dich" in der Bonner Straße: Vereinsleiter Denis Batschurin merkt, dass auch unter den Kindern der Krieg das Thema ist

"Warum soll ich schweigen? Es gibt nichts zu verbergen", sagt Denis Batschurin, als wir den Termin ausmachen. Der 41-Jährige ist nach mehreren Wochen Recherche der einzige aus der russischen Community, der bereit ist, mit dieser Redaktion zu sprechen. Seine Mutter ist Deutsche, der Vater Russe, er selbst ist in Kasachstan geboren: Die Geschichte der Sowjetunion bringt es mit sich, dass kaum jemand Wurzeln in nur einer Nation hat.
Was der Krieg mit dem Stadtteil macht? "Die Menschen sind auseinandergerückt, die Fronten verhärtet. Viele sprechen nicht mehr miteinander." Er merkt, dass auch unter den Kindern der Krieg das Thema ist. "Zu unserem elfjährigen Sohn sagen wir nicht, wer unserer Meinung nach wie viel Schuld trägt. Wir sagen ihm nur: Es ist Krieg und das ist schlecht."
Bilder in russischen wie ukrainischen Medien seien verzerrt, so seine Meinung. "Ich versuche, russische, ukrainische und deutsche Nachrichten zu schauen", sagt er. So habe er das Gefühl, halbwegs objektiv informiert zu sein. Er plädiert für Verständnis - auch mit den Menschen aus Russland - und kennt die Sorgen seiner Landsleute: "Viele haben Bedenken, dass für die Ukrainer andere Regeln gelten könnten als für sie selbst - oder besser gesagt: gar keine Regeln."
Gerüchte über angebliche Besserbehandlungen der ukrainischen Flüchtlinge gibt es viele. Am Heuchelhof hat ein Video aus einer anderen Stadt die Runde gemacht, in dem ein Auto mit deutschem Kennzeichen einen Strafzettel bekommt und eines aus der Ukraine nicht. Der Wahrheitsgehalt ist nicht überprüfbar, die Verbreitung nicht zu kontrollieren. Fest steht nur: Jedes Gerücht, jedes Video macht etwas mit den Menschen.
Gethsemane-Kirche: Pfarrerin Anna Bamberger warnt vor Pauschalisierungen, denn nicht jeder, der aus Russland komme, stimme Putin zu

"Wir dürfen nicht vergessen, dass viele der Deutschen aus Russland auch eine eigene Fluchtgeschichte hinter sich haben. Diese Menschen haben viel Leid erfahren, sind vielleicht an unserem System verzweifelt - und das Leid wurde ihrer Meinung nach kaum gesehen. Umso schwerer ist es jetzt für sie, wenn sie jetzt sehen, dass andere ganz viel Unterstützung bei ihrem Ankommen hier erfahren", sagt die evangelische Pfarrerin Anna Bamberger.
"Es gibt für Menschen kaum etwas Schlimmeres, als wenn sie leiden und keiner sieht es. Und in dieser verletzlichen Situation ist man umso anfälliger für einfache Parolen, wie sie etwa Putin bietet", erklärt sie sich die Zustimmung, die es für den russischen Präsidenten bei einigen Menschen am Heuchelhof gibt. "Auch hier müssen wir aufpassen: Wir dürfen nicht pauschalisieren. Es stimmt lange nicht jeder, der aus Russland kommt, Putin zu. Auch das ist eine schmerzhafte Erfahrung, die viele der Leute jetzt machen: Dass sie für etwas verantwortlich gemacht und angegriffen werden, was sie gar nicht unterstützen."
Wie kann es weitergehen am Heuchelhof? Wie kann in "Klein-Moskau", wie der H1 von manchen Würzburgern genannt wird, der Multi-Kulti-Sprachenmix wieder an die Stelle der gespenstischen Verschwiegenheit rücken?
Bürgerverein Heuchelhof: "Wir brauchen Orte und Momente, wo der Krieg kein Thema ist"
"Wir müssen feiern, wir brauchen Orte und Momente, wo der Krieg kein Thema ist", sagt Christiane Kerner vom Bürgervereins Heuchelhof. Ein Familienfest im Mai war eine erste Annäherung. "Aber es sind noch viele Gespräche notwendig."
Die braucht es auch laut Pfarrerin Anna Bamberger: "Man kann nur aufhören, pauschal zu reden und zu denken, wenn man ein differenziertes Bild bekommt. Dazu muss den Menschen zugehört werden. Allen, auch den Deutschen aus Russland." Dafür brauche es aber "auf allen Seiten Leute, die bereit sind, sich zu öffnen. Und das ist aktuell eine Riesen-Herausforderung. Deswegen muss es das ein erstes Ziel sein, dass die Menschen wieder anfangen miteinander zu sprechen".
So sieht es auch Quartiersmanagerin Hermine Seelmann. Ein Chance liegt für sie im gemeinsamen Alltag, in dem man sich gerade auf den kurzen Wegen rund um den Place de Caen begegnet. Ob es die Rückengymnastik-Gruppe ist, in der alle die gleichen Wehwehchen mitbringen oder die Erkenntnis, dass sich jeder für die Kinder im Viertel ein friedliches Aufwachsen wünscht: "Wir müssen versuchen, über Gemeinsamkeiten wieder ins Gespräch zu kommen, nicht über politische Diskussionen."
Es sollte nicht darum gehen, wer was ausgelöst hat, wer wen unterstützt- sondern, wie man (nicht nur in diesem Stadtteil) lernt, miteinander zu leben.
Wozu auf die Unterschiede deuten, wenn es doch um die Gemeinsamkeiten gehen soll!
Wieso interessiert mich, woher jemand kommt? Dass wir hier zusammen leben und miteinander sprechen müssen, muss offensichtlich neu erlernt werden. Eine furchtbare Angewohnheit der Menschen... und das wird den Kids vorgelebt!
Wer ihn verteidigt soll sich in das gelobte Russland begeben.
Melnyk und viele Ukrainer verehren den Massenmörder Bandera (Grab in München) der in der Nazizeit viele Russen mit abgeschlachtet hat.
Hier sollte von den Ukrainern auch eine Abkehr von Stefan Bandera erfolgen!
Wie war das noch mit dem Wahlkampf von Erdogan in Deutschland und seinem daraus resultierenden Wahlsieg.
Wenn man da gefragt hat, warum geht ihr nicht zurück, wenn da alles so toll ist, bekam man immer die gleiche Antwort.
Genauso ist es mit den Bürgern aus den ehemaligen UdSSR Gebieten und deren Nachkommen. Alles gut finden, aber zurück? Nein.
Es sind doch unsere Politiker, die nichts im Griff haben, alleine dieses Oppositionsgehabe von Herrn Merz ist doch nur kontraproduktiv.
Jetzt stelle man sich einmal vor, Deutsche würden in Moskau oder Istanbul einen Autocorso veranstalten?
Tatsächlich fahren plötzlich mit Putin-Unterstützern besetzt Fahrzeugkolonnen durch die Stadt, es folgen Wortmeldungen vor laufender Kamera mit unverhohlener Putin-Propaganda. Da kann es dem deutschen Demokraten schon mal richtig schlecht werden, wenn einem klar wird welches Klientel sich da in unserer Region ausgebreitet hat.
Absolut jeder Putin-Freund sollte direkt nach Russland abgeschoben werden und zwar mit anschließendem Einreiseverbot für die gesamte EU!
Die einzige Lösung ist tatsächlich das Sprechen, und zwar immer nur in der Ich-Form und möglichst ohne Projektion und Schuldzuweisung auf die Dialogpartner. Dafür braucht es respektvolle kompetente Moderation (idealerweise von Traumatherapeuten). Hier wurde und wird immer noch viel versäumt. Und die Folgen tragen wir alle. Denn es gibt in diesem Land praktisch keinen Menschen, der nicht mittelbar oder unmittelbar von einem solchen Trauma betroffen ist.
Ich will niemand beschuldigen ,nichts gutheißen,jeder toter Mensch egal auf welcher Seite ist zuviel.
Aber nur Schweigen das kennt man auch aus der Deutschen Geschichte, und es hat nichts gutes bewirkt.