Nur wenige Tage nach Beginn des russisch-ukrainischen Krieges entdeckt Dascha Smirnov (Name geändert) aus dem Landkreis Aschaffenburg auf ihrer Website eine E-Mail, die sie in helle Aufregung versetzt. "Distanzieren Sie sich öffentlich von Putin", heißt es in dem anonym versandten Text, "sonst klebt das Blut unschuldiger Menschen an Ihren Händen". Dascha Smirnov ist keine Politikerin, sie ist weder bedeutend noch einflussreich – differenziert betrachtet, ist sie nicht einmal Russin.
"Ich stamme aus Kasachstan. Eine der 15 Sowjetrepubliken, die genau wie die Ukraine in den 90er Jahren selbständig wurde, als die Sowjetunion zerfiel", sagt die Gastronomin aus dem Kreis Aschaffenburg. Ihre Familie habe ukrainische Wurzeln, ihre Oma sei eine ukrainische Jüdin gewesen, Dascha selbst ist sehr jung nach dem Studium nach Deutschland gezogen. Ihr Mann ist Grieche.
Gastronomin berichtet von Hass-Anrufen im russischen Restaurant
"Nur weil wir ein russisches Restaurant haben, werden wir jetzt angefeindet von wildfremden Leuten", berichtet sie. Es sei doch total absurd, dass sie, die Kasachin und ihr griechischer Mann, sich jetzt distanzieren sollten - auch noch öffentlich. "Wie denn bitte?", fragt Dascha. "Und warum? Ich habe doch mit Putin nichts am Hut und die Leute in der Ukraine tun mir leid."
Aus Gastronomen-Kreisen ist zu erfahren, dass anonyme Hass-Mails mittlerweile öfter in den Bewertungsspalten von russischen Restaurants oder Läden auftauchen. Dascha Smirnovs Lokal ist keine Ausnahme.
"In diesen Zeiten halten die Stammgäste zu uns", sagt die 47-Jährige. Trotzdem hat sie Angst: "Wir hatten jetzt schon mehrere Hass-Anrufe in unserem Restaurant. Wir haben junge Bedienungen, 20 Jahre alt, die kennen die Welt noch nicht." Und dann würden sie am Telefon wegen Putins Krieg beschimpft. "Das ist doch verrückt!"
Russischstämmige Würzburgerin hat Angst vor einer Spaltung der Gesellschaft
So wie Dascha Smirnov denken viele russische oder russischstämmige Menschen, die teilweise seit Jahrzehnten in Unterfranken leben. Dier in Würzburg beheimatete Natascha Richter (Name geändert) wünscht sich, dass sich die Menschen hier bewusst machen, dass Bürger mit russischen Wurzeln "nicht verantwortlich sind für Putins Krieg und nicht verantwortlich gemacht werden sollten".
Die 44-jährige medizinische Fachkraft hofft sehr, dass der Krieg in der Ukraine nicht eine Spaltung der deutschen Gesellschaft bewirkt. Und dass "die Millionen von deutschrussischen oder russischstämmigen Menschen, die sich doch so gut integriert haben", wegen des Krieges nicht an den Rand gedrängt und als Feinde ausgemacht werden. "Ich habe ganz schlecht geschlafen die letzten Tage, weil mich dieses Thema so umtreibt."
Natascha Richter selbst hat in diesen Tagen zwar noch keine Anfeindungen erlebt. Aber ihr Mann sei in der großen Firma, in der er arbeitet, schon angegangen worden: "Da siehst du, was deine Leute gemacht haben! Bist du jetzt zufrieden mit deinem Präsidenten?"
Dabei lebten sie und ihr Mann schon seit 25 Jahren in Deutschland und hätten sich immer als "angekommen" erlebt. "Ich zum Beispiel bin als Deutschrussin als Kind als 'Faschistin' angefeindet worden, weil meine Familie deutsche Wurzeln hat", berichtet die 44-Jährige. Dass sie jetzt im ursprünglichen Herkunftsland der Familie wegen ihrer russischen Herkunft Angst haben müsse, macht sie sehr betroffen. "In keinster Weise" identifiziere sie sich mit Putins Politik. "Aber Russisch ist eben auch meine Sprache, das kann ich ja nicht ändern."
Der deutsche Azubi wird plötzlich als "Russe" wahrgenommen
Was Natascha Richter besonders ängstigt: dass sogar ihr in Deutschland geborener 19-jähriger Sohn, der gerade eine Ausbildung macht, über Nacht als "Russe" wahrgenommen und verbal attackiert wird. "Was haben meine in Deutschland aufgewachsenen Kinder mit Putin zu tun? Die haben doch nicht einmal einen russischen Pass!"
Die Deutschrussin hat ihren Kindern geraten, sie sollten sich bedeckt halten, "nicht provozieren", nicht über Politik sprechen. Sie selbst versucht, in der Öffentlichkeit nicht mehr russisch zu sprechen, etwa am Handy mit ihrer Mutter. "Mich bedrückt diese Situation sehr. Der Hass der Welt richtet sich jetzt auch auf kleine Leute mit russischen Wurzeln, die mit dem ganzen Wahnsinn nicht zu tun haben."
Russisch-orthodoxe Kirche Bad Kissingen: Hier beten Russen und Ukrainer gemeinsam
Auch Priester Alexej Lemmer, der Vorsteher der russisch-orthodoxen Gemeinde des Hl. Sergius von Radonesch in Bad Kissingen, stammt aus Russland. Geboren im sibirischen Omsk, ist er als Kind 1992 nach Deutschland gekommen. Hat auch Lemmer aufgrund seiner russischen Wurzeln oder in seiner Eigenschaft als russisch-orthodoxer Priester seit dem Beginn des Kriegs in der Ukraine Anfeindungen erlebt?
"Bisher nicht und ich hoffe, das bleibt so", sagt der 38-jährige Priester. "Auch die Kirchengemeinde in sich ist friedlich, obwohl wir hier Russen und Ukrainer, Weißrussen und Georgier sind." Der Krieg werde nicht in die Gemeinde hineingetragen und solle das nicht. "Wir sind als Kirche gegen Gewalt und stehen dafür, Konflikte friedlich zu lösen. Wir beten gemeinsam für Frieden."
Diese "extra Gebete für den Frieden zwischen Russland und der Ukraine" sprechen die Angehörigen der russisch-orthodoxen Kirchengemeinde nicht erst seit acht Tagen, sondern – mit Blick auf den lange schwelenden Bürgerkrieg an der ukrainisch-russischen Grenze – seit acht Jahren jeden Sonntag. Die gemeinsame Sprache, in der sich beim Gebet Russen und Ukrainer, Weißrussen und Georgier wiederfinden, ist Kirchenslawisch. Eine Art Ursprache des Slawischen, die es gab, bevor sich Russen und Ukrainer über die Jahrhunderte sprachlich voneinander entfernten.
"Es ist besser, wenn wir hier in der Gemeinde politische Meinungen außen vor lassen. Wir können hier in Bad Kissingen nichts verändern. Wenn wir anfangen, schlecht übereinander zu sprechen, bringt das nichts", sagt Lemmer. Seine russisch-orthodoxe Gemeinde will den Ukrainern helfen, mit Spenden und Lebensmittellieferungen, Sprachübersetzungen in Ämtern und mit geistlicher Hilfe.
Anton Sahlender, Leseranwalt