
Der russische Angriffskrieg in der Ukraine fordert täglich neue Tote. Und auch wo keine Bomben fallen, sind die Menschen aus beiden Nationen zu Feinden geworden. Was viele von ihnen dennoch eint: ihr Glaube. Rund 60 Prozent der Ukrainer und rund 75 Prozent der Russen bekennen sich zum orthodoxen Glauben.
Überall auf der Welt hat die russisch-orthodoxe Kirche Gemeinden in der Diaspora, auch in Würzburg. Gegründet vor 30 Jahren von einem deutschen Konvertit, hat die Würzburger Gemeinde heute einige Hundert Mitglieder. Die Gläubigen kommen aus Russland, Weißrussland, Ukraine, Moldawien, Georgien, Kasachstan oder Kirgisien und auch einige Deutsche gehören zur Gemeinde. Die Gottesdienste finden auf Deutsch und Kirchenslawisch statt. Im Gespräch schildert der russisch-orthodoxe Pfarrer Vladimir Bayanov (45) die emotionale Stimmung in der Würzburger Gemeinde - und welche Meinung er zum putin-treuen Kirchenoberhaupt der russisch-orthodoxen Kirche, Patriarch Kyrill I., hat.
Vladimir Bayanov: Der Krieg hat uns mittlerweile alle erreicht. Die Stimmung durch die Ereignisse in der Ukraine war sehr aufgeheizt. Wir als Gemeinde haben viele emotionale Briefe und Emails bekommen, aber auch handfeste Anfeindungen von verschiedenen Leuten. Unser Schaukasten wurde mit politischen Parolen und Beleidigungen beschmiert. Wir verstehen uns als Gemeinde als ein Ort, an dem verschiedenste Leute zusammentreffen, an dem Brücken zwischen Menschen geschlagen werden. Der Zeitpunkt für ein Interview erschien mir deshalb ungünstig, ich wollte erst etwas abwarten.
Bayanov: Die Stimmung ist emotionsgeladen. Fast jeder in der Gemeinde ist auf eine gewisse Weise betroffen, weil viele Menschen einen Bezug zum postsowjetischen Kulturraum haben. Manche haben Verwandte im Kriegsgebiet und machen sich große Sorgen um sie. Manche spüren auch die Sanktionen: Man kann nicht mehr nach Russland reisen oder Geld nach Hause überweisen. Einige haben auch direkten Kontakt ins Kriegsgebiet, bekommen Nachrichten von der Front - man hat einfach das Gefühl, das alles findet in der nächsten Gasse statt. Seit dem Beginn des Krieges sind viele aus der Gemeinde psychisch sehr belastet.

Bayanov: Ich habe mich kurz nach dem Kriegsbeginn mit einer Botschaft an die Gläubigen der Gemeinde gewandt, sie ist auch auf der Internetseite der Gemeinde zu finden: Es bleibt für mich unbestritten, dass es sich um einen Krieg handelt, einen Angriffskrieg. In jedem Gottesdienst beten wir seit Beginn der Kriegshandlungen für den Frieden. Die Menschen versuchen natürlich, sich ein Bild der Lage zusammenzureimen auf der Basis von komplett widersprüchlichen Nachrichtenströmen. In den russischen Medien entsteht ein komplett anderes Bild als in den westlichen. Es ist offensichtlich, dass man nicht nur mit Kanonen kämpft, sondern auch vehement im medialen Raum: Die westlichen und russischen Medien kämpfen um die Deutungshohheit.
Bayanov: An dem Thema kann selbst eine kleine Gemeinschaft zerbrechen. Sogar in engsten familiären Kreisen verfeinden sich Menschen, weil sie den Krieg unterschiedlich begreifen. Mir kommt es so vor, dass der Hass jetzt nicht wenige Menschen innerlich umtreibt. Man kann aber den Hass nicht mit Hass besiegen, man kann Feuer nicht mit Feuer bekämpfen. Ich hoffe, dass der Krieg bald mit einem Friedensvertrag beendet wird - und nicht deshalb, weil sich die Kriegsparteien gegenseitig ausgelöscht haben.
Bayanov: Ich persönlich distanziere mich von allem, was diesen Krieg noch weiter anheizt. Wir sehen doch, welche schrecklichen Folgen er mit sich bringt, deshalb muss er möglichst bald beendet werden.
Bayanov: Ja. Dass der Name genannt wird, hat vor allem die Funktion, die jurisdiktionelle Zugehörigkeit der Gemeinde zu der russischen orthodoxen Landeskirche kenntlich zu machen. Dass es Menschen gibt, die die Meinung des Patriarchen nicht teilen, verändert nicht den kirchenrechtlichen Status der Gemeinde. Und schließlich wird jeder vor Gott Rede und Antwort stehen müssen für seine Taten und Worte - da bin ich mir absolut sicher.
Bayanov: Relativ wenig. Bei uns wird viel auf Deutsch gebetet und gesungen. Der Großteil der Menschen, die in unsere Gottesdienste kommen, haben ihren Lebensmittelpunkt hier in Deutschland. Viele leben und arbeiten hier seit über 20 Jahren. Gleichzeitig fühlen sich die Leute trotzdem ihrer Herkunftsregionen mehr oder weniger verbunden. Wir als Kirchengemeinde sehen uns aber nicht als einen russischen Kulturtreffpunkt, nicht als einen Heimatverein.
Bayanov: Wir verstehen uns als einen Ort des Gebetes. Die Menschen, die in den Gottesdienst gehen, suchen vor allen Dingen die Stille und die Spiritualität. Viele kommen in die Kirche, weil sie Trost durch Gebet erhoffen. Nicht wenige sind froh, einen Raum zu haben, in dem sie seelisch aufatmen können und wo nicht über die Politik gestritten wird.
Bayanov: Ja, es sind vielleicht 30 bis 40 Menschen, hauptsächlich Frauen und Kinder.
Bayanov: Doch. Vor Ostern kamen zwei Frauen in die Kirche. Die eine hat für ihren gefallenen Sohn gebetet, die andere für ihren gefallenen Cousin. Es stellte sich heraus, dass der eine für die Ukraine kämpfte, der andere auf der Seite der Separatisten fiel…

Wie können sich in so einer Situation die Gläubigen begegnen, ohne aufeinander loszugehen?
Bayanov: Diejenigen von den Flüchtlingen, die es in unsere Kirchengemeinde schaffen, sind wahrhaft fromme Seelen. Zuhause gingen sie jeden Sonntag in die Kirche. Eine Frau ist sogar eine Nonne und musste ihr Kloster verlassen. Eine andere sang im Kirchenchor, sie erzählte mir, dass ihre Kirche nun im Krieg zerbombt wurde. Diese Menschen versuchen, ihre persönliche Situation mit Hilfe ihres Glaubens zu verarbeiten… Für mich gibt es Vieles zu bewundern: ihr tiefer und aufrichtiger Glaube und ihre Friedfertigkeit. Wir in der Gemeinde müssen unseren bescheidenen Beitrag zur Befriedung und Versöhnung zwischen den Menschen leisten.
Bayanov: Wir versuchen, die Menschen aus der Ukraine herzlich zu empfangen und ihnen, soweit unsere Kräfte reichen, zu helfen: bei der Wohnungssuche, bei Übersetzungen, wo wir gebraucht werden. Bald möchten wir eine Stadtführung durch unsere schöne Stadt Würzburg anbieten und über ihre reiche Geschichte erzählen, angefangen bei den Frankenaposteln und ersten heiligen Bischöfen. Diese Heiligen werden übrigens auch in unseren Gottesdiensten angerufen.