Die Kinder, die in diesem Herbst die Schule besuchen, verhalten sich anders, als Kinder im Herbst 2019. Manche von ihnen – aber durchaus nicht alle – wirken vereinsamt, sozialentwöhnt und unkonzentrierter als früher. Das berichten Lehrkräfte und Schulleiterinnen und Schulleiter aus Unterfranken. In einer nicht repräsentativen Umfrage hat sich diese Redaktion mit Pädagoginnen und Pädagogen aus der Region in Verbindung gesetzt und sie sechs Wochen nach Beginn des neuen Schuljahrs gebeten, zu beschreiben, wie sich die Pandemie auf ihren Schülerinnen und Schülern ausgewirkt hat. Die gute Nachricht vorab: Nach Aussage ihrer Lehrkräfte schätzen nach den Lockdowns fast alle Kinder die Schule mehr und freuen sich, dass sie jetzt wieder "richtigen Unterricht“ haben dürfen.
Lauter, unruhiger, mitteilsam: Vielleicht ist es normal, dass Kinder wieder gehört werden wollen
Doch der "richtige Unterricht“ muss erst wieder gelernt werden: Alle befragten Rektorinnen und Rektoren sprechen vom Verlust sozialer Routinen bei etlichen ihrer Schülerinnen und Schüler nach eineinhalb Jahren Wechsel- und Heimunterricht. Die Kinder hätten teilweise verlernt, sich unterrichtsangemessen zu verhalten - also etwa sich zu melden oder die Banknachbarin ausreden zu lassen. "In den unteren Jahrgangsstufen fällt auf, dass die Schüler eher unruhig sind, nicht abwarten können und ein großes Mitteilungsbedürfnis haben", berichtet der Rektor der Realschule Kitzingen, Michael Rückel. Auch an der Würzburger Jakob-Stoll-Realschule sind offenbar mehr Schülerinnen und Schüler als früher laut und fordernd: "Vielleicht ist es auch ein Stück weit normal, dass Schüler wieder verstärkt wahrgenommen und beachtet werden wollen“, meint dazu Rektor Alexander Röhrer.
In Einzelfällen gibt es Ausschlüsse vom Unterricht
Von "erheblichen Auffälligkeiten beim Sozialverhalten, vor allem in den unteren Jahrgangsstufen" spricht der Rektor der David-Schuster-Realschule in Würzburg, Dieter Schanzer. In seiner Schule mussten "in mehreren Fällen Ausschlüsse vom Unterricht verfügt werden, weil der Bildungsanspruch der Mitschülerinnen oder Mitschüler gefährdet war". Allerdings ereigneten sich Schanzer zufolge diese Ausschlüsse direkt nach der vollständigen Schulöffnung im Sommer. Mittlerweile habe sich die Situation deutlich gebessert und "ist auf dem Weg zu den Verhältnissen vor Corona", so der Rektor. Nach wie vor sei allerdings bei einigen der besonders fordernden Schülerinnen und Schüler noch großer Nachholbedarf "im Hinblick auf eigenverantwortliches Lernen zu beobachten".
Große Anstrengungen der Lehrkräfte im Distanzunterricht
Offenbar haben Lehrkräfte aus der Region während der harten Pandemiezeit intensiv und engagiert daran gearbeitet, dass ihnen gerade die "Problemkinder" nicht verloren gehen, sprich: dass diese sich nicht komplett aus dem Distanzunterricht verabschieden. Das berichtet etwa Ulrich Müller, der im Kreis Bad Kissingen die Mittelschule Oerlenbach leitet. Zwar hätten sich an seiner Schule die meisten Kinder und Jugendlichen "stabil" gezeigt, dennoch habe es Probleme mit einigen wenigen Kindern gegeben, die allerdings schon vor den Lockdowns aufgefallen seien. "Aber wir haben hier in unserer ländlich ausgerichteten Schule einen sehr engen Zugriff auf die Kinder, kleine Klassen und engagierte Pädagogen, die auch zu den Eltern nach Hause gefahren sind", sagt Müller.
Deshalb habe es keinen Fall gegeben, in dem der Kontakt zu den Schülerinnen und Schülern ganz abgerissen sei, aber "durchaus Fälle, wo wir die Jugendsozialarbeiter eingeschaltet haben". Mehrere Schulleiterinnen und Schulleiter, etwa der Rektor der Würzburger Jakob-Stoll-Realschule, berichten, dass Kinder, die im Distanzunterricht "verloren gegangen wären", in die Notbetreuung aufgenommen worden seien. Das habe geholfen. "Bei manchen Schülern war klar, dass sie wohl eingeloggt, aber dann praktisch nicht mehr anwesend waren. Insofern sind tatsächlich einige verloren gegangen", heißt es allerdings aus einer weiteren städtischen Realschule aus der Region.
Unterfränkische Lehrkräfte sprechen von Defiziten vor allem in Englisch und Mathe
Dass manche Kinder in der Pandemiezeit das Lernen verlernt haben, wie etliche Schul-Chefinnen und -Chefs dieser Redaktion berichten, sorgt natürlich auch für fachliche Defizite. Am meisten fallen diese Lücken in Mathematik und Englisch auf – in Kernfächern also, in denen die Lerneinheiten aufeinander aufbauen und Neues nicht verständlich ist, wenn das Alte nicht gelernt ist.
Lehrkräfte der David-Schuster-Realschule in Würzburg beschreiben gerade im Fach Englisch "deutliche Lücken beim Wortschatz und bei grammatikalischen Strukturen". Auch Mittelschullehrerinnen und -lehrer aus der Region sehen gerade im Fach Englisch den größten Nachholbedarf. "Das Englisch-Sprechen ist in den vergangenen Monaten zu kurz gekommen", sagt etwa Christiane Helfrich, Rektorin der Sinntalschule Wildflecken (Lkr. Bad Kissingen). Um die Kinder in der mündlichen Konversation wieder fit zu machen, setze ihre Schule auf Brückenkurse. Zwei Stunden pro Woche gebe es zusätzlich Sprachunterricht; die Rektorin hat sogar eine Muttersprachlerin, eine Dolmetscherin, gefunden, die mit den Kindern übt. Brückenkurse gibt es an der Sinntalschule auch in Mathe; hier hat die Rektorin einen Kollegen aus dem Ruhestand geholt.
Schulen im Aufholmodus: Brückenkurse, Lerncoaching, Schülernachhilfe
Die Sinntalschule ist nicht die einzige Schule, an der große Anstrengungen unternommen werden, um coronabedingte Lücken zu schließen. Alle befragten Schulleiterinnen und Schulleiter berichten von Hilfspaketen; an der Kitzinger Realschule etwa setzt man neben Förderkursen auf Lerncoaching, das helfen soll, das Lernen zu optimieren. Zudem geben Schülerinnen und Schüler Nachhilfe. Auch die Jakob-Stoll-Schule plant Förderkurse. Rektor Alexander Röhrer verweist allerdings darauf, dass "nach einer Zeit des Ankommens" erst jetzt im Herbst große Leistungsnachweise geplant seien. Diese müssten dann zunächst analysiert werden, bevor weitere Schritte erfolgten.
Die Gemeinschaft hat den Kindern am meisten gefehlt
Auf die Frage dieser Redaktion, was den Schülerinnen und Schülern in der Zeit des Distanzunterrichts am meisten gefehlt haben, antworten die Schulchefinnen und -chefs übereinstimmend: Gemeinschaft! "Die Schüler haben ihre Freunde vermisst, manche haben sogar vergessen, wie es ist, Freunde zu haben und Freundschaften zu knüpfen", sagt Rektorin Helfrich aus Wildflecken. "Weil man sozialen Umgang nur durch sozialen Umgang lernt, setzten wir daher im Moment ganz stark auf Teambuilding, leisten uns im Unterricht viel Gruppenarbeit – mit Abstand natürlich. Und wir machen so viele Exkursionen wie es das Wetter nur zulässt."
Wie sehr Kinder unter der coronabedingten Isolation gelitten haben, hat die Rektorin aus Wildflecken gesehen, als sie nach entsprechenden Positiv-Testungen gerade wieder eine ganze Klasse in Quarantäne schicken musste. "Manche Kinder haben geweint", hat Helfrich beobachtet. Eines habe gesagt: "Bitte nicht wieder nach Hause, dann bin ich wieder so alleine."