Sie sind dauermüde, antriebslos, kaum belastbar. Zahlreiche Menschen berichten noch lange nach einer Corona-Infektion von gesundheitlichen Problemen. Die Diagnose: Long- oder Post-Covid. Wie verbreitet sind die Langzeitfolgen? Gibt es Risikofaktoren? Und warum haben Betroffene Symptome, obwohl häufig keine organische Ursache feststellbar ist?
Prof. Christoph Kleinschnitz, Long-Covid-Experte und Direktor der Klinik für Neurologie am Uniklinikum Essen, und Prof. Jürgen Deckert, Direktor der Psychiatrie an der Uniklinik Würzburg und Sprecher der Arbeitsgruppe psychische Gesundheit im Netzwerk Universitätsmedizin, antworten auf die wichtigsten Fragen.
Wie viele Corona-Infizierte sind von Langzeitfolgen betroffen?
Dazu gibt es je nach Studienmethodik sehr unterschiedliche Angaben. Meist werde ein Anteil von zehn bis 15 Prozent genannt, sagt der Neurologe und gebürtige Würzburger Christoph Kleinschnitz. Allerdings: Die bisherigen Untersuchungen bezögen sich auf frühere Virusvarianten wie Alpha oder Delta. Vor dem Hintergrund von Omikron seien die Schätzungen wohl zu hoch: "Die meisten Menschen hatten mittlerweile direkt oder indirekt Kontakt zu dem Virus, und doch entwickeln zum Glück nur die wenigsten Long-Covid".
Was ist der Unterschied zwischen Long-Covid und Post-Covid?
Long-Covid, Post-Covid oder Langzeitfolgen – diese Begriffe werden häufig synonym verwendet. Eine gängige Abgrenzung richtet sich nach der Dauer der gesundheitlichen Beeinträchtigungen: So spricht man laut Robert Koch-Institut (RKI) von Long-Covid, wenn Beschwerden vier Wochen nach der akuten Sars-CoV-2-Infektion fortbestehen oder neu auftreten. Post-Covid bedeutet, dass Erkrankte auch nach mehr als zwölf Wochen noch Symptome zeigen.
Gibt es Risikofaktoren für Long- und Post-Covid?
"Ein Risikofaktor ist es, wenn man ungeimpft ist", sagt Kleinschnitz. Das würden immer mehr Untersuchungen eindeutig belegen. Der Mediziner hat in der Post-Covid-Ambulanz am Uniklinikum Essen mehr als 500 von Langzeitfolgen Betroffene betreut.
Patientinnen und Patienten mit psychischen Vorerkrankungen wie Angst- oder Panikstörungen oder Depressionen seien demnach anfälliger für Langzeitfolgen, sagt der Neurologe. Auch seien in der Essener Ambulanz Berufstätige aus dem Bildungs- und Verwaltungsbereich überrepräsentiert gewesen. Auch Menschen, die sich häufig mit Gesundheitsthemen befassten und eher in sich hineinhorchen würden, seien tendenziell häufiger betroffen.
Kann man Long- und Post-Covid verhindern oder vorbeugen?
Langzeitfolgen vorbeugen – etwa durch eine bestimmte Ernährung oder Bewegung – funktioniert nach Angaben der Experten nicht. "Long-Covid kann über alle Charaktere und Menschengruppen zuschlagen", sagt Kleinschnitz. Der einzige wirksame bekannte Schutz sei die Impfung.
Was passiert bei Long- und Post-Covid im Körper?
"Ja und nein, da gehen die Meinungen auseinander", sagt Kleinschnitz. Bei 90 bis 95 Prozent seiner Patienten habe man "keine harten organischen Befunde erheben können" – trotz verschiedenster Ansätze von Kernspintomografien bis zu Nervenwasseruntersuchungen. Dafür habe man Hinweise auf "psychologische Konflikte" gefunden. Es gebe jedoch auch Untersuchungen, bei denen man bestimmte Veränderungen im Körper feststellen konnte, etwa in der Gehirnstruktur. Nur: Oft seien dafür Methoden angewandt worden, die man sonst außerhalb der Forschung kaum nutzen würde und die "in der klinischen Routine weder etabliert noch validiert sind". Ergebnisse seien deshalb vorsichtig zu interpretieren.
Generell werde immer deutlicher, "dass es nicht ein Long-Covid gibt, sondern verschiedene Subgruppen", sagt der Würzburger Psychiater Prof. Jürgen Deckert. Ob es dabei eine Gruppe gebe, die an einer Art chronischem Covid-19 leide, verursacht durch ein Verbleiben des Virus im Körper, Autoantikörper oder andere überschießende Immunreaktionen, sei noch unklar.
Ist Long- oder Post-Covid eine rein psychische Erkrankung?
"Es ist eine Erkrankung, bei der die Psyche und das vegetative Nervensystem eine riesige Rolle spielen", sagt Kleinschnitz. Denn die Psyche könne das Immunsystem, das Gerinnungssystem, das Herz-Kreislauf-System massiv beeinflussen.
Auffallend sei, dass bei Betroffenen von Langzeitfolgen die Schwere der Infektion nur teilweise die Schwere von Angst und Depression bedinge, sagt auch Deckert. "Wir müssen daher davon ausgehen, dass ein Teil der Long-Covid-Erkrankungen psychosomatisch ist."
Wenn es keine organische Ursache für die Beschwerden gibt, warum haben die Betroffenen dann messbare Symptome?
Psychosomatische Erkrankungen seien dadurch gekennzeichnet, dass neben psychischen Beschwerden auch körperliche Symptome vorlägen, erklärt Deckert. Diese würden durch Stress oder Anspannung ausgelöst - wie Konzentrations- oder Schlafstörungen, Erschöpfung, Herzrasen und erhöhter Blutdruck. Bei Long-Covid sei nicht nur die Infektion selbst ein Stressfaktor, so Deckert, sondern auch die Sorge um erkrankte Angehörige oder die sozialen Folgen der Pandemie wie der Verlust von Kontakten.
Kann allein die Angst vor Long-Covid die Langzeitfolgen auslösen?
"Angst hat in der Evolution die Bedeutung, sich bei drohender Gefahr auf Kampf oder Flucht vorzubereiten", erläutert Deckert. Dazu würden auch somatische Funktionen aktiviert: Das Herz rase, der Blutdruck steige, die Atmung beschleunige sich. "Wenn sich ein solcher Zustand nicht in Kampf oder Flucht entlädt und dauerhaft anhält, kommt es zur Erschöpfung bis hin zur Depression."
Viele Menschen fühlen sich müde und erschöpft – ab wann sollte man zum Arzt?
Wenn starke Erschöpfung, Müdigkeit und das Gefühl, ausgebrannt zu sein, länger als vier Wochen anhielten oder immer schwerer würden, sollte man zu einem Arzt gehen, rät Deckert. Gleiches gelte, wenn Schlaf- und Konzentrationsstörungen das gewohnte Leben bis hin zur Arbeitsunfähigkeit beeinträchtigen sollten. Bei lebensmüden Gedanken sollte man immer und sofort Hilfe suchen.
Was können Betroffene tun und welche Behandlungsmöglichkeiten gibt es?
Wenn Beschwerden nach einer Corona-Infektion anhielten oder erst nach einiger Zeit aufträten, sollte man sich gründliche organisch untersuchen lassen, sagt Kleinschnitz. Danach würde man symptomatisch behandeln. Es gebe zwar nicht die eine Therapie für alle, Atemübungen, Physiotherapie oder Logopädie könnten aber oft helfen.
Psychosomatische Beschwerden, rät Kleinschnitz, solle man aktiv angehen und sich therapeutische Hilfe suchen. Auf keinen Fall solle man sich "zuhause ins stille Kämmerlein zurückziehen". Denn gerade Patienten ohne messbaren organischen Befund könne oft alles helfen, was generell bei Erschöpfung, Angst oder Depression empfohlen werde, bestätigt Deckert. Dazu zählten beispielsweise körperliche Betätigung, Aktivität und sozialer Austausch.
Um allen Betroffenen die richtige Hilfe anbieten zu können, sei es grundsätzlich wichtig, dass Long- und Post-Covid-Ambulanzen immer interdisziplinär aufgestellt seien – mit internistischer, neurologischer und psychiatrisch-psychotherapeutischer Kompetenz.
Gibt es Medikamente gegen Corona-Langzeitfolgen?
"Die eine Tablette gegen Long-Covid gibt es nicht", sagt Kleinschnitz. Patienten zeigten schlicht zu viele verschiedene Symptome. "Das hat man bei keiner anderen Erkrankung, dass praktisch jedes Organ betroffen sein kann."
Ist Long- und Post-Covid heilbar?
Nach sechs, neun oder zwölf Monaten bessern sich die Symptome bei den "allermeisten" Betroffenen, so die Experten. Durch eine symptomatische Therapie könne man die Heilung beschleunigen.
Ist Long-Covid eine neue Volkskrankheit?
Mit dem Begriff Volkskrankheit tue er sich schwer, sagt Kleinschnitz. Es werde immer Einzelfälle geben, bei denen Patienten dauerhaft krank bleiben. "Aber wenn wir es jetzt schaffen, die richtigen Versorgungsstrukturen aufzubauen, können wir den Anteil gering halten."
Was ist die größte offene Frage bei Long-Covid und Post-Covid?
Für Deckert ist die derzeit spannendste Forschungsfrage, wie groß die Gruppe der spezifisch durch Sars-CoV-2 ausgelösten Long-Covid-Patienten wirklich ist. Auch Kleinschnitz hält vor allem psychosomatische Fragestellungen für interessant. Offen sei zum Beispiel, welche Rolle die weltweite Aufmerksamkeit und die mediale Präsenz der Pandemie beim Entstehen eines Massenphänomens wie Long-Covid gespielt habe. Sicher sei: "Noch nie stand eine Erkrankung so im Fokus wie Covid-19".