Eine Novembernacht 2022, 0.45 Uhr: Begleitet von Polizeibeamten fährt ein Krankentransport die gewundene Straße zum Sommerberg in Lohr (Lkr. Main-Spessart) hoch. Das Ziel ist die gerontopsychiatrische Station der psychiatrischen Bezirksklinik, direkt neben der schwer gesicherten Forensik. Eingeliefert wird Alfons Tischler (Name geändert), 79 Jahre alt.
Der alte Mann hat eine Horrorzeit hinter sich: Einige Tage zuvor ist er in seiner Badewanne daheim gestürzt und hat sich dabei eine Rippe gebrochen. Er kam dann nicht mehr hoch aus der Wanne, konnte sich nicht befreien, niemanden alarmieren. Volle 48 Stunden lang harrte der 79-Jährige eingeklemmt in der Wanne aus, bevor er gefunden und in eine Allgemeinklinik gebracht wurde. Bei der Aufnahme war er "vollständig orientiert", hatte Druckstellen und Prellmarken im Brustbereich, außerdem Bluthochdruck sowie "gering erhöhte Infektparameter", heißt es in den Unterlagen der Klinik.
Doch warum landet ein Mann, der keine psychiatrische Vorgeschichte hat und selbst nach zweitägigem Zwangsaufenthalt in der Badewanne noch "vollständig orientiert" ist, wenige Tage später in der Psychiatrie?
Nach Delir nächtlicher Transport mit Polizeibegleitung in die Psychiatrie
Alfons Tischler habe in der Erstklinik ein "Delir", einen Wahnzustand, entwickelt. Er habe halluziniert und unverständliches Zeug gestammelt, den Pflegekräften Medikamente entgegengespuckt und versucht, sie zu schlagen, erfahren die Ärzte der Psychiatrischen Bezirksklinik Lohr aus den Unterlagen der zuweisenden Klinik. Wegen "Fremdgefährdung" und auch "Eigengefährdung" (der alte Mann war auf Station offenbar mehrfach aus dem Bett gefallen) stellte die zuweisende Klinik Antrag auf Eilbetreuung beim zuständigen Betreuungsgericht. Alfons Tischler wird, begleitet von Polizei, zwangsweise nach Lohr verlegt.
Alfons Tischlers Geschichte ist keine Ausnahme, kein Sonderfall. Sie steht für eine Entwicklung, die dem Leiter der psychiatrischen Bezirksklinik in Lohr, Prof. Dominikus Bönsch, große Sorgen bereitet: Der gerontopsychiatrischen Station werden so viele alte Patienten zugewiesen wie noch nie. Bönsch spricht von einem "Belegungsrekord".
Die Zuweisungen von Patienten im späten Lebensalter aus anderen Kliniken in die Gerontopsychiatrie Lohr haben der Statistik zufolge seit 2016 um 300 Prozent zugenommen: den rund 100 Zuweisungen im Jahr 2016 stehen rund 350 für 2021 gegenüber. Die Lohrer Psychiatrie für psychiatrische Erkrankungen im Alter ist zuständig für die unterfränkischen Regionen Main-Spessart, Miltenberg, Aschaffenburg – und vor allem auch für die Region Würzburg mit ihren zahlreichen Kliniken und Pflegeheimen.
Weil die Bezirksklinik anders als etwa die Psychiatrie der Uniklinik Würzburg einen sogenannten Versorgungsauftrag hat, muss sie alle zugewiesenen Patienten aufnehmen – auch wenn manche dieser alten Menschen körperlich viel zu krank sind für einen Aufenthalt in der Psychiatrie. Und auch wenn manche von ihnen gar nicht dorthin gehören, weil nämlich ihre psychiatrischen Auffälligkeiten ihre Ursache in einer schweren körperlichen Erkrankung haben.
Verschlechterung des Zustandes: Notarzt ordnet Verlegung an
Zurück in jene Novembernacht, 5.30 Uhr: Alfons Tischler, der seit wenigen Stunden in der Lohrer Gerontopsychiatrie ist, geht es schlecht. Seine Sauerstoffsättigung liegt nur bei 64 Prozent. Normalerweise sollte der Wert über 90, besser über 95 Prozent betragen. Der 79-Jährige bekommt also kaum Luft. Sauerstoff, sofort! Notarzt, sofort!
Laut dem Bericht des zuständigen Oberarztes, Dr. Markus Schröter, wird der alte Mann so schnell wie möglich ins naheliegende Klinikum Main-Spessart gefahren. "Denn auf die Behandlung internistisch akut kranker Menschen ist die Psychiatrie nicht ausgelegt", sagt Schröter. Sauerstoff aus einem Wandanschluss etwa gebe es in der Psychiatrie nicht, auch die Überwachung durch Monitore entspreche nicht der eines Allgemeinkrankenhauses. Aus dem Klinikum Main-Spessart kommt später die Nachricht: Alfons Tischler hat eine Lungenentzündung.
Das passt zum dokumentierten Verhalten des alten Mannes in den Tagen zuvor. Ein Wahnzustand, erklärt Schröter, sei für Patienten mit Lungenentzündung nicht untypisch. Nicht auszuschließen ist dem Oberarzt zufolge auch, dass das Delir eine Folge der Stürze ist, die der Mann zuhause in der Badewanne und in der Erstklinik erlitten hat.
"Unzählige Fehlbelegungen" von Patienten mit Lungenentzündung oder Infarkt
Für Schröter und Bönsch ist der Fall Tischler ein Paradebeispiel für die "unzähligen Fehlbelegungen", mit denen die Psychiatrie konfrontiert ist. "Wir behandeln psychiatrische Krankheitsbilder", sagt Klinikdirektor Bönsch. "Für eine Aufnahme in die Psychiatrie muss deshalb auch die psychiatrische Störung führend sein und nicht beispielsweise das Delir bei einer behandelbaren somatischen Ursache."
Doch würden der Gerontopsychiatrie aus Allgemeinkliniken immer mehr Patienten zugewiesen, bei denen die körperliche Erkrankung führend sei, nicht die psychiatrische. "Wir sehen zunehmend Patienten, die irrtümlich als psychiatrisch diagnostiziert werden, weil sie zum Beispiel unruhig sind, aber eigentlich einen Schlaganfall, einen Herzinfarkt, eine Lungenentzündung haben", sagt Bönsch. Gleichzeitig würden aus Heimen eine große Zahl von Senioren überwiesen, die einfach nur "schwierig oder auffällig und betreuungsintensiv" seien.
Sogar Sterbende werden noch aus dem Heim in die Psychiatrie verlegt
Sogar sterbende Menschen, die kurz vor dem Tod "Unruhezustände mit angstvoll aufgeweiteten Augen und nachfolgenden Rufen um Hilfe" durchlebten und schwer zu beruhigen seien, würden noch aus dem Pflegeheim in die Psychiatrie transportiert. Den Fall eines lange schon schwerstkranken 90-Jährigen, der im Sterben liegend wegen massiver nächtlicher Angstzustände aus dem Pflegeheim in die Gerontopsychiatrie verlegt wurde, hat die Bezirksklinik akribisch dokumentiert. Desgleichen zahlreiche andere Fälle, in denen laut Bönsch die "Psychiatrie als Palliativstation ausgenutzt" wird. Oder als letzte Auffangstätte für demente Menschen mit mehreren Krankheiten.
Personalnotstand in vielen Kliniken und Heimen als Grund für zunehmende Zuweisungen
Was ist die Ursache dieser Entwicklung? "Ganz klar der Personalmangel in den Kliniken und Heimen, der sich immer mehr verschärft", sagt der Ärztliche Direktor der Bezirksklinik. Die Pflegekräfte der zuweisenden Krankenhäuser könnten nicht mehr, seien überfordert gerade mit zu vielen schwierigen, auffälligen und betreuungsintensiven Patienten.
Aus dem Landkreis Main-Spessart etwa ist bekannt, dass in den dortigen Pflegeheimen aktuell wegen Personalmangels rund 300 Heimplätze nicht zur Verfügung stehen. Im Landkreis Würzburg hat in diesem Jahr wegen Personalnot schon die Main-Klinik in Ochsenfurt Alarm geschlagen, in der Stadt Würzburg auch das Klinikum Würzburg Mitte (KWM). Die jüngste Studie des Verbands der Pflegenden in Bayern (VdPB) von 2021 spricht davon, dass es allein in Unterfranken rund 4000 Altenpflegekräfte zu wenig gibt und über 12.000 Krankenpflegekräfte fehlen.
Ärztlicher Direktor: Betreuung der primär psychisch kranken Menschen durch Fehlbelegungen gefährdet
Für die Gerontopsychiatrie in Lohr bedeuten die vielen Fehlbelegungen, dass auch hier das Personal überlastet und mit der Betreuung körperlich schwerstkranker Patienten manchmal überfordert ist, sagt Bönsch. "Der immense Behandlungsaufwand für diese Patienten führt auch dazu, dass wir unserer eigentlichen Aufgabe, nämlich der Versorgung primär psychisch kranker Menschen, kaum mehr nachkommen können."
Der Chefarzt hat dies vor einigen Monaten auch in einem Brief deutlich gemacht, den er – mit der Bitte um Verständnis für die Nöte der Psychiatrie und der Bitte um weniger Fehlzuweisungen – an die Leiter der zahlreichen zuweisenden Kliniken geschickt hat.
Sowas muss man deuten können, vielleicht wäre auch ein Weg, so etwas als Weiterbildung zu fördern.
Was sich aber auch daraus abliest, dass Verantwortung, ganz egal wo, sehr oft abgegeben wird.
Manchmal weil es die bequemste Lösung ist oder eben, weil die Fachkenntnis fehlt.
Man kann nur hoffen, dass der Bericht von den richtigen Leuten wahrgenommen wird.
Nicht nur in diesem heutigen Artikel, sondern in vielen unzähligen seit Jahren angeprangerten mangelnden Pflege- und Gesundheitszustand, ist der eigene Maßstab des Ausschusses in der Umsetzung,nicht für die Bevölkerung erkennbar. Bitte Diskussionen in ein zukunftfähiges und zeitnahenes Patienten orientierendes Handeln umsetzen!!
Zudem spielt da wohl die verbreitete Mentalität der Problemverlagerung eine große Rolle.
Ob im beschreibenen Fall ein Personalengpass bestand und der zur Verlegung führte, ist doch gar nicht bewiesen und wird hier nur pauschal unterstellt.
Danke Frau Dr. Merkel 😎
Immer weniger Leistung trotz immer mehr Zuzahlung und immer höherer Beiträge. Da fragt man sich, wo das ganze Geld hingeht. Es kann nur eine Erklärung geben. Wenige stopfen sich die Taschen voll, z.B. die Pharmaindustrie, während Stationsärzte und Pflegepersonal schlecht bezahlte 36 Stunden Schichten schieben und daher keiner mehr Lust hat, in diesen Berufen zu arbeiten.
Wenn Sie Merkel aber als Inbegriff des Versagens auf allen Ebenen ansehen ist es auch gut. Dann brauchen sie wenigstens die wirklichen Ursachen nicht ergründen.
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Es gab ja Gott-sei-Dank keine anderen Parteien oder Minister ! ! !
Es ist bezeichnend, dass der Hilferuf über die Öffentlichkeit erst dann erfolgt, wenn er die Einrichtungen in einem derarten Ausmaß belastet, dass diese ihrer „eigentlichen Aufgabe…kaum mehr nachkommen können.“