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Würzburg
Nominiert für XY-Preis: Chia Rabiei stellte sich dem Würzburger Messerangreifer entgegen - so geht es ihm heute
Für sein mutiges Eingreifen wurde Chia Rabiei mehrfach ausgezeichnet. Jetzt könnte ein weiterer Preis hinzukommen. Doch wie steht es um sein Asylverfahren?
Chia Rabiei ist seit seinem couragierten Eingreifen bei der Messessattacke am 25. Juni 2021 in Würzburg eine lokale Berühmtheit.
Foto: Christoph Weiss | Chia Rabiei ist seit seinem couragierten Eingreifen bei der Messessattacke am 25. Juni 2021 in Würzburg eine lokale Berühmtheit.
Jonas Keck
 und  Manfred Schweidler
 |  aktualisiert: 15.07.2024 10:20 Uhr

Wieder greift Chia Rabiei seinen Rucksack, wieder stellt er sich dem Mann mit dem Messer entgegen, der auf ahnungslose Passanten einsticht – und auch auf ihn losgeht. Der 43-Jährige hat diese Szenen schon einmal erlebt, als er sich am 25. Juni 2021 auf dem Barbarossaplatz in Würzburg dem psychisch kranken Messerangreifer Abdirahman J. entgegenstellte. Für Dreharbeiten schlüpft er jetzt in die Rolle, die er gut kennt: Er spielt sich selbst, für einen Film über couragierte Mitbürgerinnen und Mitbürger.

An jenem Abend des 25. Juni 2021 stach ein damals wohl 31-jähriger Somalier in der Innenstadt von Würzburg scheinbar wahllos mit einem Küchenmesser um sich. Drei Frauen wurden getötet. Weitere Menschen, darunter ein elfjähriges Mädchen, wurden schwer verletzt. Als einer der ersten Passanten ergriff Rabiei die Initiative, wollte helfen, und verhinderte möglicherweise weitere Morde. Er hielt den Täter bis zum Eingreifen der Polizei in Schach. 

Nach Videos und Zeitungsberichten wurde er von Passanten auf der Straße erkannt

Andere Passanten filmten das, die kurze Sequenz wurde tausendfach im Internet angeschaut und über die Medien verbreitet. Dies und die Berichte über seine Zeugenaussage im Prozess machten sein Gesicht bekannt. 19 Monate später wird der sportliche Mann mit dem freundlichen Lächeln noch immer in Würzburg auf der Straße erkannt. Wildfremde Menschen klopfen ihm auf die Schulter, wollen ihm zum Dank die Hand drücken. 

Mit einem Rucksack stellte sich Chia Rabiei dem Würzburger Messerangreifer entgegen.
Foto: Christoph Weiss | Mit einem Rucksack stellte sich Chia Rabiei dem Würzburger Messerangreifer entgegen.

Einer begnügte sich nicht damit. Karl Erhard sagt: "Mit Schulterklopfen ist es nicht getan bei so einem mutigen Verhalten. Ich weiß nicht, ob ich mich das in einer vergleichbaren Situation getraut hätte." Er kann das einschätzen, der pensionierte Erste Kriminalhauptkommissar hat mit seinen Kollegen manchen Mörder auf andere Art gestellt. Er war vor seiner Pensionierung Ermittler bei der Würzburger Kriminalpolizei, zuletzt stellvertretender Leiter des für Tötungsdelikte zuständigen Kommissariats K1.

Erhard schrieb einen Brief an die Redaktion von "Aktenzeichen XY... ungelöst". Darin schlug er den Kurden für einen der Preise für couragierte Mitbürger vor, mit denen das ZDF-Magazin jedes Jahr mutige Menschen auszeichnet. "Wenn es einer verdient hat, dann Rabiei", sagt Erhard.

Der "Aktenzeichen XY"-Redaktion gefiel der Vorschlag. Sie nahm den Würzburger aus einer Fülle von Vorschlägen in den Kreis ihrer Kandidatinnen und Kandidaten auf, von denen je einer in den monatlichen Sendungen mit seiner Tat in einem Film vorgestellt wird. Und dafür opferte der Kurde, der in Würzburg inzwischen auch eine Arbeit und eine eigene Wohnung gefunden hat, seine knappe Freizeit. Die Dreharbeiten für den Vorstellungsfilm fanden Mitte Oktober in Erding bei München statt.

Rabiei als Hauptdarsteller in seinem eigenen Film

"Ich habe mich gefühlt wie ein Schauspieler, wie in einem Traum", erzählt Rabiei von den Dreharbeiten. Dem Regisseur habe er manchmal widersprochen und gesagt: "Es war anders, wir müssen das so machen." Er erinnert sich noch gut an die Tat. Lange Zeit plagten ihn Alpträume. Nach Außen wirkt er ruhig und selbstbewusst.

Abseits der Filmkulissen ist Rabiei kein Hauptdarsteller. Der Asylbewerber aus dem Iran ist auch nicht der einzige, der an jenem Abend Mut zeigte: Eine Angestellte bei Woolworth warf sich schützend über ein elfjähriges Mädchen, dessen Mutter gerade getötet worden war – und wurde selbst von Messerstichen getroffen. Ein Kaufhausdetektiv warf in hilfloser Verzweiflung mit Gläsern nach dem Täter, um ihn dazu zu bringen, mit dem Morden aufzuhören. Und zwei Soldaten aus Volkach (Lkr. Kitzingen) trieben zusammen mit Rabiei und anderen Passanten den mörderischen Messerstecher schließlich in die Enge, bis die Polizei kam.

Einer der Soldaten zeigte Rabiei während des Prozesses gegen den Messerangreifer seine Anerkennung: Als er nach seiner Zeugenaussage den Saal verlassen wollte, sah er Rabiei unter den Nebenklägern sitzen. Er deutete mit gestreckten Zeigefinger auf den Mann, der sich mit ihm dem Mörder entgegen gestellt hatte, und schlug sich mit der Faust dreimal auf die Brust, um anzudeuten: "Der hat das Herz am rechten Fleck" – eine der eindrucksvollsten Gesten, die von dem monatelangen Prozess in Erinnerung geblieben sind.

An vielen Verhandlungstagen im Prozess um die Messerattacke nahm Rabiei teil.
Foto: Thomas Obermeier | An vielen Verhandlungstagen im Prozess um die Messerattacke nahm Rabiei teil.

Natürlich freue er sich über die Nominierung, sagt Rabiei. Aber allzu oft werde er wegen seines mutigen Einschreitens als "Held" bezeichnet. Das gefalle ihm nicht, sagt er bei einem Treffen mit dieser Redaktion. "Eine Heldin war die Frau, die sich vor die eigene Tochter stellte", sagt er mit Blick auf die damaligen Ereignisse. Die Mutter wurde ermordet.

Seit 2002 wird vom ZDF der "XY-Preis – Gemeinsam gegen das Verbrechen" vergeben. Die Auszeichnung steht unter der Schirmherrschaft der Bundesinnenministerin Nancy Faeser und ehrt Personen mit Zivilcourage, die sich auf beispielhafte und kluge Weise im Kampf gegen Kriminalität für ihre Mitmenschen eingesetzt haben.

Oberbürgermeister Christian Schuchardt und Bürgermeisterin Judith Jörg ehrten am Jahrestag des Würzburger Messerangriffs den mutigen Helfer Chia Rabiei.
Foto: Daniel Peter | Oberbürgermeister Christian Schuchardt und Bürgermeisterin Judith Jörg ehrten am Jahrestag des Würzburger Messerangriffs den mutigen Helfer Chia Rabiei.

Mit Auszeichnungen kennt sich Rabiei inzwischen aus. Ministerpräsident Markus Söder verlieh ihm die Bayerische Rettungsmedaille. Am ersten Jahrestag der Morde erhielt er in Würzburg die Ehrenmedaille des Oberbürgermeisters von Christian Schuchardt. Und auch seine kurdisch geprägte Heimatstadt Mahabad im Nordwesten des Irans hat von seiner Courage erfahren und zollte ihm mit der Ehrenmedaille "für besonders mutige Bürger" ihren Respekt.

Eine Ehrenmedaille 'für besonders mutige Bürger' erhielt Chia Rabiei von seiner iranischen Heimatstadt Mahabad verliehen.
Foto: Manfred Schweidler | Eine Ehrenmedaille "für besonders mutige Bürger" erhielt Chia Rabiei von seiner iranischen Heimatstadt Mahabad verliehen.

Mit Sorge verfolgt Rabiei die derzeitigen Proteste im Iran. "Ich will die Nachrichten eigentlich gar nicht sehen", sagt der. Die Sozialen Medien seien voll von Bildern der Gewalt. Er wischt über den Bildschirm seines Handys und verzieht das Gesicht als er sieht, wie Polizisten auf Bürger einprügeln. 

Auslöser der Proteste im Iran war der Tod der 22-jährigen iranischen Kurdin Mahsa Amini. Die sogenannte Sittenpolizei hatte sie festgenommen, weil sie gegen die islamischen Kleidungsvorschriften verstoßen haben soll. Die Frau starb Mitte September in Polizeigewahrsam. Seit Wochen demonstrieren Zehntausende gegen die repressive Politik und den autoritären Kurs. Mehr als 280 Menschen wurden nach Angaben von Menschenrechtlern getötet, mehr als 14.000 verhaftet.

Rabiei arbeitet seit über einem Jahr in Würzburg als Küchenhilfe

Auch Chia Rabiei ist Kurde. Weil er der unterdrückten Volksgruppe angehört, hat er den Iran im Jahr 2019 verlassen. Er flog nach Italien, "um Urlaub zu machen", sagt er. Dann sei er spontan nach Deutschland weitergereist und habe Asyl beantragt. Seine damalige Lebensgefährtin, die gemeinsame Tochter und seine Schwiegermutter begleiteten ihn. Der Ablauf des Asylverfahrens sah vor, dass der 43-Jährige von Bamberg nach Schweinfurt und von Schweinfurt nach Würzburg umziehen sollte. Heute wohnt Rabiei in der Würzburger Innenstadt, in einer eigenen Wohnung, wie er stolz betont.

Er arbeitet als Küchenhilfe im Juliusspital Weinstuben. Fränkische Bratwürste, Sülze, Maishähnchenbrust. Seit über einem Jahr ist er dort angestellt. "Ich kann nicht ohne Arbeit", sagt der Asylbewerber und meint das nicht nur im Sinne der Lebenserhaltung. Von Kindesbeinen an half er in der Metzgerei des Großvaters mit. Nach Schule und Wehrdienst arbeitete er zwölf Jahre im Supermarkt seines Vaters. Im Iran arbeitete er zuletzt als Taxifahrer. Dann kam er nach Deutschland und durfte nicht arbeiten. So will es das Gesetz. "Ich habe Pfandflaschen gesammelt, um etwas zu tun", sagt er.

Und auch an seinen Deutschkenntnissen arbeitet er. "Es ist gut, aber noch nicht gut genug", sagt er über sein Deutsch. Formell beträgt sein Sprachniveau B1. Das befähigt dem Goethe-Institut zufolge dazu, sich einfach und zusammenhängend über vertraute Themen äußern zu können. Über Erfahrungen und Ereignisse berichten und Träume, Hoffnungen und Ziele beschreiben zu können.

"Es wäre ja peinlich, wenn man den ins Flugzeug steckt und abschiebt."
Karl Erhard, ehemaliger Ermittler bei der Würzburger Kriminalpolizei

Träume, Hoffnungen und Ziele hat Chia Rabiei. Er möchte deutscher Staatsbürger werden. Doch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) versetzt ihm einen jähen Dämpfer: "Negativ" steht auf seinem Bescheid der Behörde. Der Asylbewerber sei zu einem Zeitpunkt eingereist, zu dem die politische Lage im Iran noch stabil gewesen sei. Gegen eine ablehnende Entscheidung hat sein Anwalt Roj Khalaf eine Klage vor dem Verwaltungsgericht Würzburg erhoben.

Entscheidung des Würzburger Verwaltungsgerichts steht noch aus

Eine Entscheidung steht noch aus. "Aber es kann doch nicht sein, dass ein Mann mit so einem mustergültigen Verhalten nicht hierbleiben und Deutscher werden darf", sagt der pensionierte Mordermittler Karl Erhard. "Es wäre ja peinlich, wenn man den ins Flugzeug steckt und abschiebt – womöglich mit der bayerischen Rettungsmedaille um den Hals." 

Der Kurde Chia Rabiei demonstrierte im September 2021 gegen eine Neonazi-Veranstaltung am Barbarossaplatz.
Foto: Ulises Ruiz | Der Kurde Chia Rabiei demonstrierte im September 2021 gegen eine Neonazi-Veranstaltung am Barbarossaplatz.

Die Abschiebung drohe zwar seinem Mandanten aktuell nicht, erklärt sein Anwalt. Wer zeigen kann, dass er gut integriert ist, darf sich auch weiterhin in Deutschland aufhalten. Roj Khalaf ist Strafrechtler und vertrat Chia Rabiei als Nebenkläger im Prozess um die Messerattacke. Er gibt mit Blick auf das Asylverfahren zu bedenken, dass Rabiei gegen einen muslimischen Mann angekämpft hat. Aus Notwehr natürlich, aber wie das in der islamischen Republik am Persischen Golf ausgelegt wird, wisse niemand.

In Würzburg kennt man Chia Rabiei, den Mann mit dem Rucksack. Er trägt ihn auch heute noch oft bei sich, wenn er durch die Innenstadt geht. Zielstrebigen Schrittes, mit wachsamem Blick. Er sieht eine Frau mit Rollator. Sie müht sich sichtlich mit ihrem Gehwagen ab, der einfach nicht durch den Hausflur passen will. Chia Rabiei hilft. "Nicht für Medaillen, nicht für Geld und nicht für den deutschen Pass", sagt er. "Für mein Herz." 

In der Sendung "Aktenzeichen XY... ungelöst" wurden im Laufe des Jahres bereits Nominierte für den XY-Preis vorgestellt. Der Einspielfilm mit Chai Rabiei wird voraussichtlich am 7. Dezember ausgestrahlt werden. Eine Fachjury wählt drei Preisträgerinnen oder Preisträger aus.

 
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Kommentare
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  • T. F.
    Menschen wie er, brauchen keine Preise, er ist mehr als willkommen und sollte eine dauerhafte Bleibe haben, alles Gute.
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  • M. S.
    Die einen werden mehrfach ausgezeichnet dafür hat man andere vergessen.
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  • S. T.
    Vielen Dank für den aufmerksamen Hinweis. Fehler ist korrigiert.
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