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Würzburg/Schweinfurt
In Deutschland einmalig: Flüchtlinge helfen Geflüchteten
Gewalt und Flucht hinterlassen Narben – auch psychisch. In einem Modellprojekt in Schweinfurt leisten Laien-Berater erste Hilfe für die Seele. Nicht von allen gibt es Lob.
In Deutschland einmalig: Flüchtlinge helfen Geflüchteten       -  Flüchtlinge finden in Deutschland nur schwer psychologische Hilfe. Der Bedarf ist viel höher als das Angebot, sagen Experten.
Foto: Getty Images | Flüchtlinge finden in Deutschland nur schwer psychologische Hilfe. Der Bedarf ist viel höher als das Angebot, sagen Experten.
Susanne Schmitt
 und  Irene Spiegel
 |  aktualisiert: 27.04.2023 07:39 Uhr

Sie hatte das Messer schon in der Hand, um es sich in den Bauch zu stechen. Polizeibeamte konnten das Schlimmste verhindern. Der angedrohte Suizidversuch einer 29-jährigen schwangeren Frau aus Somalia Ende Oktober im Schweinfurter Ankerzentrum ist kein Einzelfall. Im Gegenteil. Er sei die „alleroberste Spitze des Eisbergs“, sagt Psychologin Hannah Zanker. Nur durch den Polizeieinsatz wurde dieser Versuch öffentlich, viele andere würden gar nicht bemerkt. Und die Dunkelziffer der Flüchtlinge, die suizidale Gedanken hätten, sei hoch.

Trotzdem finden Geflüchtete in Deutschland nur schwer psychologische Hilfe. „Der Bedarf ist viel größer als das Angebot“, sagt Dr. Henrike Zellmann. Die Würzburger Psychologin war weltweit für Ärzte ohne Grenzen in Flüchtlingscamps im Einsatz und berät Hilfsorganisationen bei der psychosozialen Betreuung von Schutzsuchenden. In Schweinfurt hat sie vergangenes Jahr die Ambulanz für Seelische Gesundheit St. Josef aufgebaut, ein Modellprojekt. Psychologen wie Hannah Zanker und geschulte Laienberater (sogenannte Peer-Berater) unterstützen dort die Bewohner des Ankerzentrums im Umgang mit Belastungen. So wie es in der internationalen Flüchtlingsarbeit längst „absoluter Standard“ ist, sagt Zellmann. In Deutschland allerdings sei die Skepsis groß.

Die Grundidee von Peer-Modellen, die beispielsweise auch in der Inklusionsarbeit genutzt werden, ist einfach. Es geht um eine Art Hilfe auf Augenhöhe. In Flüchtlingsprojekten kommen Laienberater meist aus den gleichen Ländern wie die Geflüchteten, sie haben ähnliche Erfahrungen gemacht, sprechen die gleiche Sprache. „Psychosoziale Peer-Berater nehmen quasi eine Brückenfunktion ein“, sagt Zellmann. „Sie sollen die fachliche Betreuung durch Therapeuten, Psychiater oder Ärzte nicht ersetzen, sondern ergänzen – auf einer niedrigeren, früheren Ebene.“

In Deutschland einmalig: Flüchtlinge helfen Geflüchteten       -  Die Würzburger Psychologin Henrike Zellmann (rechts) war für Ärzte ohne Grenzen weltweit in Flüchtlingscamps im Einsatz.
Foto: Zellmann | Die Würzburger Psychologin Henrike Zellmann (rechts) war für Ärzte ohne Grenzen weltweit in Flüchtlingscamps im Einsatz.

Zellmann selbst war für Ärzte ohne Grenzen in Pakistan, im Nordirak, in Liberia und im Kongo tätig. Überall hat sie Peer-Berater aus- und fortgebildet und die Supervision übernommen. Auch in Schweinfurt.

Die Ambulanz für Seelische Gesundheit wurde dort 2017 vom Krankenhaus St. Josef und Ärzte ohne Grenzen gegründet. Drei Peer-Berater aus Somalia, Syrien und dem Iran wurden damals von Zellmann geschult. Seitdem vermitteln sie den Geflüchteten beispielsweise Strategien, wie sie mit Angst, Wut oder Trauer umgehen können. Dabei geht es nicht darum, die Vergangenheit aufzuarbeiten oder psychische Störungen zu entdecken, sondern den Menschen jetzt und hier zu helfen. „Die meisten Ängste unserer Klienten sind durch den ungewissen Aufenthaltsstatus gesteuert“, sagt Hannah Zanker. Die Folge seien Schlafstörungen, Albträume, Depressionen oder im schlimmsten Fall Suizidgedanken.

Meist gingen die Flüchtlinge gestärkt aus den Gesprächen mit den Peer-Beratern. Aber: Kein Berater nehme die Rolle eines Therapeuten ein, sie „werden bei ihrer Arbeit keinen Tag alleine gelassen“, sagt Zellmann. Alle kennen wichtige psychologische Symptome, „um im rechten Moment abgeben zu können“. Bei gravierenden Problemen, etwa suizidalen Gedanken, greifen die Psychologen sofort ein und übernehmen den Patienten oder leiten ihn in die Psychiatrie weiter. Ein Fall, in dem ein Patient für andere zur Gefahr geworden wäre oder es Hinweise darauf gegeben habe, sei Zellmann nicht bekannt.

Diese klaren Grenzen, die genaue Trennung der Rollen, sind Voraussetzungen für verantwortungsbewusste Peer-Programme. Nicht immer aber würden sie eingehalten. Die Bundesweite Arbeitsgemeinschaft Psychosozialer Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer (BAfF) etwa sieht manche Peer-Ansätze kritisch. Die Berater könnten grundsätzlich einen „Beitrag zur Stabilisierung psychisch belasteter Geflüchteter leisten“. Laien ohne entsprechende Ausbildung dürften aber nicht als „Traumahelfer“ beratend oder gar therapeutisch tätig werden. „Hier gibt es Vorstöße in Richtung einer ‚Therapie light‘ speziell für Geflüchtete, die durchaus problematische Konsequenzen haben können“, sagt Sprecherin Daniela Krebs. „Peer-Programme sind kein Allheilmittel für jahrelang versäumte Missstände“, so Krebs. Mängel in der Versorgung müssten nachhaltig behoben werden.

Und davon gibt es einige. Laut BAfF sind Asylsuchende zunächst nicht krankenversichert, wer Therapiekosten übernehme, sei oft unklar. Auch Dolmetscher würden meist nicht bezahlt. „Die Sprachbarriere ist ein ganz großes Problem“, bestätigt Henrike Zellmann. Eines, das die Behandlung verkompliziert oder nicht selten sogar unmöglich macht. Die BAfF betreibt deshalb bundesweit 37 Zentren, in denen jährlich 20.000 Flüchtlinge psychosozial versorgt werden. Die Wartelisten sind lang.

"Warum fängt man nicht an, niederschwellig und möglicherweise sogar präventiv etwas für die Flüchtlinge zu tun?"
Dr. Henrike Zellmann, Psychologin

Zu lang, sagt Henrike Zellmann. Flüchtlinge müssten von Beginn an psychosozial unterstützt werden. Beispielsweise eben durch „Peers“. Aus Sicht der Psychologin wird hierzulande mit der Skepsis gegenüber Peer-Projekten Potential verschenkt. Die Unterstützung durch Peer-Berater dürfe nicht als Konkurrenz missverstanden werden, sie sei kein Therapieersatz. Aber es gibt „überall Lücken in diesem Versorgungsbereich – warum fängt man nicht an, niederschwellig und möglicherweise sogar präventiv etwas für die Flüchtlinge zu tun“, fragt Zellmann. Wenn Betroffene in der ersten Ankommensphase nicht alleine gelassen würden, könnten sie häufig psychisch stabilisiert werden, so dass sie „gar nicht mehr unbedingt Fachdienste in Anspruch nehmen müssen“.

Genaue Zahlen, wie viele Flüchtlinge in Deutschland psychologische Betreuung benötigen, gibt es nicht. Eine kürzlich veröffentlichte Studie des Wissenschaftlichen Instituts der AOK (WIdO) zeigt aber, dass mehr als drei Viertel aller Geflüchteten Gewalt erlebt haben und unter körperlichen und psychischen Folgen leiden. 

In Deutschland einmalig: Flüchtlinge helfen Geflüchteten       -  Im Ankerzentrum in Schweinfurt wurden in der Ambulanz für Seelische Gesundheit bislang rund 500 Menschen unterstützt.
Foto: Anand Anders | Im Ankerzentrum in Schweinfurt wurden in der Ambulanz für Seelische Gesundheit bislang rund 500 Menschen unterstützt.

In Schweinfurt funktioniert das Projekt. Zwischen zwei und sechs Prozent der Bewohner der Ankereinrichtung suchen regelmäßig die Ambulanz für seelische Gesundheit auf. Bislang wurden mehr als 500 Menschen unterstützt. „Das ist überraschend hoch“, sagt Dr. Joost Butenop, der bei der Regierung von Unterfranken zuständig für den Gesundheitsbereich im Ankerzentrum ist. Vor allem, da es viele Flüchtlinge aus ihren Heimatländern nicht gewohnt seien, psychologische Hilfe in Anspruch zu nehmen. In Somalia etwa sei der Glauben verbreitet, zum Psychologen gehen nur Verrückte. „Sie haben teils Horrorvorstellungen, wollen keinesfalls in eine Klinik“, sagt Psychologin Hannah Zanker. Zu den Peer-Beratern aber könnten sie Vertrauen fassen.

„Das ist einmalig, in keiner Ankereinrichtung gibt es etwas Vergleichbares“, betont Butenop. Für ihn ist das Schweinfurter Modell ein „Leuchtturmprojekt in ganz Deutschland“. Auch, weil es von Beginn an vom Institut für Psychologie an der Universität Würzburg wissenschaftlich begleitet wird. Die Forschungsergebnisse sollen noch in diesem Jahr veröffentlicht werden. Sie bieten laut Butenop einen verlässlichen Messwert für die Qualität der vor Ort geleisteten psychosozialen Arbeit.

„Psychosoziale Versorgung von Flüchtlingen kann man nicht ehrenamtlich nebenbei machen.“
Dr. Joost Butenop, Referent für Asylgesundheit bei der Regierung von Unterfranken

Finanziert wird das „Leuchtturmprojekt“ bislang jedoch ausschließlich privat – von der Kongregation der Schwestern des Erlösers Würzburg, der Trägerin des Krankenhauses St. Josef. Allerdings ist die Finanzierung nur noch bis Mitte 2019 gesichert. Und dann? „Wir brauchen jetzt öffentliche Gelder“, sagt Miriam Christof von der Kongregation. Der Staat müsse Verantwortung übernehmen. Das bayerische Sozialministerium hatte 2017 zwei Anträge auf Kostenübernahme abgelehnt. Aber: „Psychosoziale Versorgung von Flüchtlingen kann man nicht ehrenamtlich nebenbei machen“, fordert auch Regierungsvertreter Butenop. Auf 250.000 Euro beziffert die Kongregation der Erlöserschwestern die jährlichen Kosten. Noch warten sie auf Antwort auf ihre Förderanfragen, die sie auch an das Bundesgesundheitsministerium gestellt haben.

In Deutschland einmalig: Flüchtlinge helfen Geflüchteten       -  Berater Salah Hamada im Gespräch mit einem Flüchtling.
Foto: SoulTalk | Berater Salah Hamada im Gespräch mit einem Flüchtling.

Ärzte ohne Grenzen hat sich nach dem Aufbau wie geplant aus dem Schweinfurter Projekt zurückgezogen. Heute betreuen die beiden Psychologinnen Hannah Zanker und Alexandra Blattner und drei Peer-Berater die Geflüchteten. „Die Peers bauen den Flüchtlingen mit ihrer Arbeit quasi Brücken in das deutsche Gesundheitssystem, sie helfen, Hürden zu überwinden“, sagt Blattner. Langfristig soll noch ein weiterer Peer-Berater dazukommen. Finanziert wird er über Geld, das das Projekt kürzlich im Crowdfunding-Wettbewerb des deutschen Integrationspreises gewonnen hat. Die Ausbildung vor Ort übernehmen Blattner und Zanker, die Schulung betreut Henrike Zellmann.

Die 43-Jährige arbeitet mittlerweile als selbstständige Projektberaterin im Bereich Psychische Gesundheit, für Ärzte ohne Grenzen, aber auch für andere internationale Organisationen. Natürlich „haben wir gehofft, dass das Schweinfurter Modell nachgeahmt wird“, sagt Zellmann. Interessenten habe es bundesweit gegeben. Und gibt es noch immer. Aber nach dem Konzept von Ärzte ohne Grenzen sollen die Peer-Berater fest angestellt und bezahlt werden. Das kostet. „Die Entwicklung geht jedoch eher dahin, dass Flüchtlingshelfer um ihre eigenen Projekte fürchten und Gelder gekürzt werden“, sagt Zellmann. „Da stellt man nicht noch neue Mitarbeiter ein. Leider.“

 
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  • E. B.
    Hallo Ticktricktrack,
    leider muss ich Ihnen sagen, dass in meiner Familie schon vor 17 - 18 Jahren Probleme gab, mit der Übernahme der Krankenkasse. Von einem Therapieplatz/Reha ganz zu schweigen. Die lehnten alle ab.
    Ich muss leider macpepp zustimmen. Und zu diesen Zeiten gab es noch keine Flüchtlinge.
    Also bitte nicht immer alles damit begründen, nur weil das zur Zeit "mit den Flüchtlingen" aktuell ist.
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  • R. A.
    Ich mag den Trump nun auch nicht, jedoch seine "Amerika-First Strategie kann man nachvollziehen. Zuviele Bürger unseres Landes haben vergessen, dass wir ebenfalls Bedürftige haben, die unter diesen Umständen zurückstecken müssen, weil wie oben zitiert die Krankenkassen und andere Träger nicht mitspielen wollen.
    Auch in unserer Familie tobt momentan der Kampf mit den Krankenkassen, die meinen bestimmen zu müssen, was notwendig ist und was nicht. Flüchtlingspolitik muss menschlich sein, jedoch darf das eigene Volk nicht darunter leiden. Was passiert, wenn das nicht vollzogen wird, sieht man am Aufgang der AfD. Unsere Regierung hat den Blick fürs eigene Ganze verloren, die Weltrettung steht im Vordergrund. Das kann es nicht sein, deswegen gibts Protestwahlen.
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  • G. F.
    Alles verständlich! Aber sind wir uns auch im klaren wieviel Deutsche Bürger psychisch Krank sind, denen nicht geholfen werden kann / wird! Weil entweder die KK eine Therapie ablehnt, oder weil es viel zu wenig Psychotherapeuten gibt? Weil die Rentenversicherung eine dringensd benötigte Reha ablehnt, weil die 4 Jahre Wartepflicht noch nicht vorrüber ist. Weil ein Gutachter der Rentenversicherung bzw der KK der Meinung ist, das wäre nicht Notwendig! Ich spreche hier aus eigener Erfahrung.
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    Und das war vor 2015 anders? Sonst können ja die Flüchtlinge gar nicht schuld sein, wenn das davor auch schon so wahr....

    Sie haben natürlich Recht, dass es in unserem Gesundheitssystem Probleme gibt. Die gabe es aber auch schon 2014. Am Geld kann es nicht liegen, heute morgen kam erst wieder ein Bericht wieviel Überschuss die KK "erwirtschaftet" haben. Und Flüchtlinge sind erst recht nicht an den Zuständen schuld.

    https://www.zeit.de/wirtschaft/2018-12/gesetzliche-krankenkassen-ueberschuss-versicherte-jens-spahn
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