
Mitten in der Nacht kommt der Anruf. Die Uhr zeigt 23.57, es ist der 14. April 2023. Heike M. schläft, nimmt das Klingeln kaum wahr. Erst als ihr Mann sie anstößt, schreckt sie hoch. Auf dem Telefondisplay leuchtet eine Nummer aus Hannover. Schlagartig ist Heike M. hellwach. Das Herz rast, die Hände zittern. Dann hört sie den Satz, auf den sie seit Monaten gewartet hat: "Wir haben eine Lunge für Sie."
Tausend Gedanken wirbeln im Kopf. Angst, Hoffnung, Zweifel, Glück, sie fühlt alles gleichzeitig. Nur 30 Minuten später hält ein Rettungswagen vor ihrem Haus in Helmstadt bei Würzburg. Zwei Sanitäter holen Heike M. ab, fahren sie nach Hannover. Zur Transplantation, zu ihrer neuen Lunge. "Ich habe nur gedacht: Oh Gott, will ich das wirklich? Kann ich jetzt noch nein sagen?"
Mit neun Jahren bekommt Heike M. die Diagnose Lungenfibrose - wie ihre Mutter
Es ist einer dieser Momente, die sich einbrennen ins Gedächtnis. Die auch zwei Jahre später noch Gänsehaut auf ihren Armen kribbeln lassen. Heike M., die ihren Nachnamen aus Datenschutzgründen nicht öffentlich nennen will, sitzt am Esstisch, atmet tief ein und aus. "Ich war damals trotz allem zuversichtlich", sagt die 52-Jährige. "Ich habe gewusst: Das Jahr 2023 hätte ich nicht überstanden."
Heike M. leidet an Lungenfibrose, einer chronischen, unheilbaren Lungenerkrankung. Im Verlauf vernarbt immer mehr Lungengewebe, Betroffene haben das Gefühl, zu wenig Luft zu bekommen. Als Kind erlebt Heike M. das bei ihrer Mutter. Das hechelnde Atmen, das Ringen um Sauerstoff bei kleinsten Anstrengungen.

Mit neun Jahren wird bei ihr selbst in der Uniklinik Würzburg die Diagnose bestätigt. Drei Jahre später stirbt die Mutter. Heike M. schluckt. "Ich erinnere mich noch genau, wie ich meine Mutter morgens beobachtet habe, wenn sie versucht hat, die Betten aufzuschütteln und wie verzweifelt sie dabei schnaufen musste." Tränen laufen ihr übers Gesicht. "Da habe ich nur gedacht: Oh nein, das habe ich auch."
Bei Heike M. schreitet die Erkrankung schleichend voran. Als sie Anfang 30 ist, liegt ihr Lungenvolumen bei knapp 50 Prozent, ihre geliebten Spaziergänge werden kürzer, die Pausen länger. Das Leben verlangsamt sich. "Es war alles anstrengend." Trotzdem arbeitet sie weiter als Bürokauffrau bei einer Würzburger IT-Firma, überwiegend im Homeoffice. Sie bekommt regelmäßig Cortison, später auch spezielle Antifibrotika. Aufhalten können sie die Erkrankung nicht.
2019 sinkt das Lungenvolumen massiv, in der Uniklinik Würzburg erhält Heike M. zum ersten Mal zusätzlichen Sauerstoff. Sie lebt "mit Schlauch in der Nase", Atmen wird zum Kraftakt. Zum Einkaufen, zur Arbeit, bei Ausflügen trägt sie ein kleines Sauerstoffgerät auf dem Rücken, das reicht für etwa fünf Stunden. Zu Hause lagern zwei 45-Liter-Flaschen zum Aufladen.
Sicher, sagt die 52-Jährige heute, habe sie manchmal Angst gehabt. "Ich habe aber versucht, mir das Positive nicht ganz nehmen zu lassen." Sie deutet auf einen großformatigen Blütendruck an der Wohnzimmerwand. Fotografieren ist ihre Leidenschaft, in der Natur findet sie Kraft. Als sie ohne Hilfe nicht mehr losziehen kann, trägt ihr Mann die Ausrüstung. Sie hat das Sauerstoffgerät im Rucksack.

"Mein Mann ist meine größte Stütze", sagt Heike M..
Uwe K. sagt: "Heike jammert nicht, das hat sie nie gemacht. Die Energie meiner Frau ist unendlich." Aus jedem Wort des 58-Jährigen ist Stolz zu hören, auf den Mut seiner Frau, auf ihren Umgang mit der Erkrankung. "Das Hauptproblem der Angehörigen ist, sie können nichts tun. Man sitzt daneben und kann nichts machen." Nur da sein. Halt geben. Denn Heike M. wird spürbar schwächer. Immer häufiger spricht das Paar über die letzte Option: eine Transplantation.
Heike M.s Lungenvolumen verschlechtert sich stetig, eine Transplantation ist die einzige Chance
Da in der Uniklinik Würzburg keine Lungen transplantiert werden, wird M. der Medizinischen Hochschule Hannover zugewiesen. 2020 besuchen sie und ihr Mann erstmals die Klinik, pro Jahr werden dort 90 bis 100 Lungen transplantiert.
Heike M. absolviert Untersuchung für Untersuchung, führt "intensive Gespräche" mit Ärzten. "Frau M.s Lunge schrumpfte immer weiter", erinnert sich Prof. Jens Gottlieb, Direktor der Pneumologie an der Medizinischen Hochschule Hannover und internistischer Leiter der Lungen-Transplantationsambulanz. Am Ende sei eine Transplantation unausweichlich gewesen.

"Ohne Uwe hätte ich diese Zeit nicht geschafft", sagt die 52-Jährige. Im Jahr 2021 heiratet das Paar. Auf dem Leuchtturm Falshöft an der Ostsee, in Dirndl und Lederhose. Kurz darauf kommt Heike M. endlich auf die Warteliste für ein Spenderorgan. Ihr Lungenvolumen beträgt nur noch 20 Prozent. Das Haus verlässt sie in den nächsten zwei Jahren kaum noch, an Foto-Ausflüge ist nicht mehr zu denken.
Dann kommt der 14. April 2023. Der nächtliche Anruf. Die Fahrt nach Hannover. Die Transplantation.
"Operationstechnisch" sei die beidseitige Lungentransplantation ein großer, aber inzwischen standardisierter Eingriff, erklärt Prof. Jens Gottlieb. Eine Lunge sei zwar im Vergleich zu Herz oder Niere groß, aber nur über drei Strukturen im Körper fixiert: Vene, Arterie und Luftweg. Bei der Transplantation würden sie abgeklemmt, der erste Lungenflügel werde entnommen. "Anschließend wird das Spenderorgan in den Brustkorb eingefügt und die drei Strukturen werden angeschlossen", sagt Gottlieb.
Funktioniert der erste Lungenflügel, folgt der zweite auf der anderen Seite. Nach fünfeinhalb Stunden ist es geschafft. "Über 90 Prozent der Patienten haben sofort eine gute Organfunktion", sagt der Spezialist aus Hannover.
Auch bei Heike M. arbeitet die Lunge sofort. Am Abend, keine 24 Stunden nach dem nächtlichen Anruf, klingelt in Helmstadt erneut das Telefon. "Sie haben gesagt, alles sei super verlaufen und Heike gehe es gut", erinnert sich Uwe K.. "Natürlich war ich heilfroh. Die echte Erleichterung kam aber erst viel später."
Heike M. nickt. Was eine Transplantation bedeute, begreife man in den ersten Tagen kaum. Ihre Erinnerung ist bruchstückhaft. Anfangs sei sie schlicht überfordert gewesen. "Mir war gar nicht bewusst, dass ich richtig atmen kann." Erst langsam habe sie gemerkt, dass sie mit den Krankenschwestern reden und lachen, dass sie telefonieren und aufstehen kann, ohne Hustenanfall. "Das war wunderschön, das ging ja alles vorher nicht. Da sind mir die Tränen gekommen."

Drei Wochen bleibt die Patientin aus Unterfranken im Krankenhaus in Hannover. Übt das Gehen, Bewegen, das normale Leben. "Wenn du einfach die Treppen rauf und runter steigen kannst, da wird es dir bewusst. Da denkt man: Was bin ich froh! Und glücklich." Ein seltsames Gefühl sei es für sie nicht, ein fremdes Organ in sich zu tragen, sagt Heike M.. "Es ist meins. Es hat sich mit meinem Körper gut arrangiert."
Im ersten Jahr nach einer Transplantation ist die Abstoßungsgefahr am größten
In der ersten Woche der Reha geht sie erstmals wieder 7000 Schritte am Tag. "Das habe ich allen erzählt, ob sie wollten oder nicht." Banale Tätigkeiten sind Erfolgserlebnisse. Duschen, waschen, anziehen. Als ihr Mann sie besucht, gehen sie spazieren. "Da hat er dauernd gefragt, ob ich eine Pause brauche – ich habe voller Stolz nein gesagt."
Zwei Augenpaare strahlen. "Der Werdegang zum Positiven ist Wahnsinn", sagt Uwe K.. "Für mich ist das auch heute noch ein Wunder."
Natürlich verändere so ein Eingriff das Leben, blickt die 52-Jährige zurück. Das Denken, die Wahrnehmung. Dass der Körper funktioniert, dass sie frei atmen kann, ist wertvoll - und nicht selbstverständlich.
Heike M. muss täglich eine Handvoll Medikamente schlucken. Einmal pro Woche lässt sie sich beim Hausarzt Blut abnehmen, etwa alle zwei Monate fährt sie zur Kontrolle nach Hannover. Das erste Jahr nach einer Transplantation sei das schwierigste, erklärt Lungenexperte Jens Gottlieb. "In dieser Zeit treten die meisten Komplikationen auf." Abstoßung des neuen Organs, Infektionen oder Probleme mit den Nahtstellen. Auch Heike M. infiziert sich zweimal mit einem Virus, die Lunge aber hält.
"Frau M. ist infektionsgefährdet, kann aber weitgehend ein normales Leben führen", sagt Gottlieb. Wichtig sei, dass sie unter Vorsichtsmaßnahmen wieder arbeite, dann hätten Patienten weniger Komplikationen und seien zufriedener.
Neun von zehn Punkten vergebe sie meist, wenn Ärzte sie nach der Einschätzung ihrer Lebensqualität fragten, bestätigt dile 52-Jährige. Sie geht wieder ohne Atemnot walken. Fährt in Urlaub. Belegt Fotokurse. Und schüttelt jeden Morgen die Betten auf. Zweimal. "Einmal normal und einmal symbolisch für meine Mutter und den Spender."
Dass so viele Menschen, so viele Ärzte, Pflegekräfte und Bekannte, sie unterstützt hätten, habe sie tief berührt. "Ich bin unglaublich dankbar, dass ich lebe", sagt Heike M.. Und: "Ich möchte anderen Mut machen und ein bisschen Hoffnung geben". Darum erzählt sie diese Geschichte, ihre Geschichte öffentlich. "Es ist einfach so enorm groß und schön, was man an Lebensqualität gewinnt."

Noch immer werden zu wenig Organe für schwer kranke Patienten gespendet. Bundesweit standen Ende 2024 nach Angaben der Deutsche Stiftung Organtransplantation knapp 8300 Menschen auf Wartelisten. 953 Menschen haben in Deutschland im vergangenen Jahr postmortal ein Organ oder mehrere Organe gespendet - darunter 290 Lungen. Erlaubt ist eine Organentnahme nur, wenn der gestorbene Mensch zu Lebzeiten zugestimmt hat. Über die Widerspruchslösung wird seit Jahren ebenso erhitzt wie ergebnislos debattiert.

Uwe K. schiebt den Ärmel seines Pullovers hoch. Seinen linken Unterarm ziert ein Tattoo: ein Kreis und zwei Halbkreise. Ein Symbol, das als persönliches Statement für eine Organspende gilt. "Ohne die neue Lunge wäre meine Frau nicht mehr bei mir", sagt der 58-Jährige. "Ich wünsche mir, dass viel mehr Menschen spenden."
Prognosen zur Lebenserwartung mit transplantierter Lunge sind schwierig
Allein in Hannover warten laut Prof. Jens Gottlieb aktuell mehr als 30 Menschen auf eine Lunge. Hoffen auf eine Zukunft, auf Lebenszeit. Auf wie viel Zeit - das könne niemand vorhersagen. "Hellseher sind wir nicht", sagt Gottlieb. "Im Durchschnitt überleben 70 Prozent unserer Patienten fünf Jahre, je nach Alter kann die Prognose besser sein." Da Heike M. bei ihrer Transplantation noch relativ jung gewesen sei und wenig Begleiterkrankungen habe, "hat sie die beste Langzeitprognose".
"Mir wurden schon zwei Jahre geschenkt", sagt die 52-Jährige und zeigt auf einen aufgeschlagenen Block. Vor der Transplantation hat sie eine Liste mit Träumen geschrieben. Viele hat sie sich erfüllt. "Aber zwei Punkte habe ich mich noch nicht getraut: Gesangsunterricht nehmen und Tanzen lernen." Heike M. lächelt. "Das schaffe ich auch noch."