Der 13. September 2016 war für sie ein großer Tag: In Rio de Janeiro holte Franziska Liebhardt bei den Paralympics die Goldmedaille im Kugelstoßen. Am 13. September 2019 kam sie auf die Warteliste für eine Spenderlunge.
Die gebürtige Berlinerin und Wahl-Würzburgerin hat viele große Einschnitte im Leben hinter sich: 2005 die Diagnose auf die Autoimmunkrankheit Kollagenose, welche das Verkümmern von inneren Organen zur Folge hat. 2009 die erste eine Lungentransplantation, 2010 ein Schlaganfall und damit einhergehend eine halbseitige spastische Lähmung, 2012 eine Nierentransplantation - und jetzt, in diesem Jahr, die zweite Lungentransplantation. Die 38-jährige Kinderphysiotherapeutin ist aktiv im Verein "Sportler für Organspenden" und hält bundesweit Vorträge darüber.
Franziska Liebhardt: Das war eine riesige Enttäuschung. Man hatte das Gefühl, dass die deutsche Bevölkerung mehrheitlich dafür war, das Gesetz zu ändern. Ich bin für "Sportler für Organspende" aktiv, wir hatten an die Bundestagsabgeordneten einen Brief geschrieben. Darauf hatten wir von mehreren Abgeordneten aus unterschiedlichen Fraktionen positive Rückmeldung bekommen. Umso größer war die Enttäuschung, dass relativ deutlich dagegen gestimmt wurde. Ich fand auch die Argumente der Gegner nicht überzeugend.
Liebhardt: Für mich nicht nachvollziehbar. Es war eine historische Chance, die wir in den nächsten zehn, zwanzig Jahren so nicht wieder bekommen. Wenn man sich in Europa umschaut, gibt es fast überall die Widerspruchslösung. Wir würden in Deutschland eine andere Kultur der Organspende bekommen, wenn die Leute gezwungen wären, sich über dieses Thema wenigstens einmal im Leben Gedanken zu machen. Durch die Unentschlossenheit gehen viele Organspender verloren. Es gibt sicher persönliche Gegenargumente, und das ist auch in Ordnung so.
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Liebhardt: Ich kann ethische oder religiöse Argumente nachvollziehen, beispielsweise von Katholiken, die Wert darauf legen, im Ganzen begraben zu sein. Nicht nachvollziehen kann ich die Angst davor, vielleicht nicht richtig tot zu sein, wenn ein Organ entnommen wird. Das ist in Deutschland definitiv auszuschließen. Schließlich kämpfen die Ärzte bis zum Schluss um das Leben eines Unfallopfers, und denken nicht, "oh, prima, das könnte ein Organgspender sein".
Liebhardt: Auf jeden Fall. Die Schwerpunkte werden neu gesetzt. Ich habe eine sehr große Demut vor dem Leben entwickelt in den letzten 15 Jahren. Für mich ist das wichtigste, am Leben zu sein. Früher habe ich Leuten zuliebe oft gesagt "Ja, komm, ich mach's", obwohl ich es vielleicht gar nicht wollte. So etwas habe ich abgelegt. Ich mache nur noch Sachen, die ich selber will. Das hat mich in meiner Persönlichkeitsentwicklung vorangebracht. Das ist aber keine bewusste Veränderung, sondern passiert automatisch. Ich bin dankbar gegenüber den Organspendern, den Kliniken und dafür, in Deutschland mit seinem medizinischen System und dem Krankenkassen-System zu leben.
Liebhardt: Ja. Gerade in den sieben Monaten des Wartens auf ein Spenderorgan. Die Ungewissheit und dann noch Corona. Ich durfte nicht mehr raus und keiner zu mir rein, das war hart. Alleine in der Wohnung, da sind digitale Kommunikationsmittel kaum Ersatz. Außer zum Pflegedienst und zum Sauerstoff-Lieferanten hatte ich keinen Kontakt. Da die in kompletter Schutz-Montur kamen, habe ich mich gefühlt wie ein Alien.
Liebhardt: Angst zu sterben auf alle Fälle. Dass diese Transplantation ausgerechnet in die Corona-Zeit gefallen ist, ist beinahe typisch für mich. Immer, wenn etwas Negatives zu vergeben ist, schreie ich offenbar doppelt "hier". Anfangs hatte ich das Virus entspannt gesehen und gedacht, dass das viel Geschrei um nichts ist. Inzwischen ist es für mich ein großes Thema, denn, obwohl ich in inzwischen in einem besseren Gesamtzustand bin, bin ich immunsupprimiert.
Liebhardt: Das gesamte Immunsystem muss mit Medikamenten heruntergefahren werden, damit der Organismus das fremde Gewebe nicht abstößt. Ohne Mundschutz geht gar nichts. Ich traue mich in Würzburg noch nicht in die Stadt, weil die Leute zu wenig Rücksicht nehmen. Selbst wenn ich mit dem Handbike am Main entlang fahre, habe ich Angst, weil da so viele Menschen unterwegs sind. Mit Freunden treffe ich mich nur einzeln und warte, dass baldmöglichst der Impfstoff kommt.
Liebhardt: Bis jetzt hatte ich nicht den Fall, dass mit mir jemand diskutieren wollte. Aber das liegt an meinem Umfeld, da hat keiner Zweifel an der Existenz des Virus', da hegt keiner Verschwörungstheorien oder versteht die Einschränkungen nicht. Aber ich hätte auch keine Lust auf Diskussionen. Die Demo in Berlin hat mich sehr geärgert, dass Leute, die nur gegen die Regeln demonstrieren wollen, gemeinsam mit Rechten laufen. Ich finde die Einordnung von Angela Merkel treffend: "Das Virus ist eine Zumutung für unsere Demokratie." Es nervt alle, ja, aber es muss halt so sein. Wenn man zu einer Hochrisikogruppe gehört wie ich, dann betrifft einen alles noch viel mehr.
Liebhardt: Der 13. September war 2016 der Tag meines Paralympics-Sieges, 2019 meiner Listung für eine Spenderlunge. Nach einem längeren Akt aus Untersuchungen und Bürokratie kam da das Schreiben. ich habe diese Parallele sofort realisiert und als einen Glücksbringer gewertet, der mir Kraft für die darauffolgende Wartezeit gegeben hat. Sieben Monate können anstrengend werden, zumal die Klinik eine Prognose von drei Monaten gestellt hatte. Ich war dabei, aufzugeben.
Liebhardt: Um 22.30 Uhr kam der Anruf aus Hannover, dass man eine Spenderlunge für mich habe, ein Organ, das auf dem Papier zu mir passen würde. Da war ich schon bereit, ins Bett zu gehen, habe mich natürlich sofort umgezogen für die Fahrt in die Klinik. Dabei ist mir ein Marienkäfer aus dem Hosenbein gefallen. Das war ein weiteres kleines Zeichen, dass alles gut geht. Corona hatte mich zweifeln lassen, doch letztlich wurden wegen des Virus und der verschobenen planbaren Operationen sogar mehr Transplantationen durchgeführt als vorgesehen.
Liebhardt: Ich habe zu Hause einen kleinen Computer, da muss ich einmal am Tag hineinpusten. Die Werte wurden letztes Jahr schlechter. Dann wurden unzählige Untersuchungen durchgeführt, ob nicht vielleicht doch ein Infekt oder Pilz vorliegt. Erst, wenn alles ausgeschlossen werden kann, ist man sich über eine Ausschlussdiagnose sicher, dass es sich um eine Abstoßung des Spenderorgans handelt. Ich war ja ohnehin in der "Overtime", trotzdem war ich fast etwas traurig, weil ich eine gute Zeit mit diesem Organ hatte.
Liebhardt: Nein, da gibt es keinen Unterschied zwischen den transplantierten Lungen. Es geht eher um die Laufzeit. Mit der ersten hatte ich enormes Glück. Deswegen hatte ich Zweifel: Werde ich von der neuen Lunge enttäuscht sein? Generell fühlt sich eine Spenderlunge anders an, als die eigene, zumal diese bei mir in den letzten Jahren vor der ersten Transplantation nicht mehr richtig funktioniert hatte. Ich hatte Atemnot, als hätte ich einen Gürtel um den Körper, der mich einschnürt - das war mit der Spenderlunge sofort weg. Aber es ist nicht so, dass der Atem anders riechen würde.
Liebhardt: Der geht's wieder gut. Nach der OP hatte sie einen kleinen Hänger, die Nieren sind schnell beleidigt bei langer Narkose, Blutverlust und Blutdruckschwankungen. Für zwei Tage hat die Spenderniere ausgesetzt, ist aber wieder angesprungen.
Liebhardt: Ich habe beschlossen, nicht noch einmal "hier" zu schreien. Gott sei Dank sind die klassischen Organe bei mir okay. Allerdings habe ich Probleme mit der Speiseröhre, mit Blutgerinnungsstörungen - das hat mit der Krankheit zu tun. Durch den Schlaganfall habe ich neurologische Probleme. Aber auch, weil die Erkrankung Hirn und Rückenmark angreift. Ich versuche, mir erst Sorgen über ein Problem zu machen, wenn es da ist. Mein Spruch ist: Es gibt nicht Kranke und Gesunde, sondern nur Untersuchte und Nichtuntersuchte.
Liebhardt: Ja. Sport führt dazu, dass ich weniger Nebenwirkungen durch die Medikamente habe, dass der Kreislauf in Schwung ist und die Organe gut durchblutet werden. Es ist Freizeitsport, aber 30 Kilometer mit dem Handbike sind schon drin. Ich habe noch in der Akutklinik mit Ergometer-Fahren begonnen und in der Reha war mir schnell die Ausdauer-Gruppe zu langweilig. So habe ich begonnen, selbstständig längere Strecken Nordic Walking zu machen. Zu Hause saß ich gleich auf dem Bike und habe mein Pensum stetig gesteigert, bis die Muskeln wieder aufgebaut waren.
Liebhardt: In meiner Vitrine liegt die Gewinner-Kugel von Rio, die schaue ich mir manchmal an. Es kribbelt schon. Aber ich habe seit dem Gewinn der Goldmedaille nie mehr eine Kugel gestoßen. Ich hatte in Rio gemerkt, dass ich rund zehn Jahre älter als die Konkurrenz bin, da gab es schon Probleme. Trotzdem hätte ich vier Jahre dran hängen können. Wenn ich jedoch sehe, dass die Paralympics in Tokio wegen Corona verlegt werden mussten, und ich mir nicht sicher bin, ob sie 2021 stattfinden können, war es die richtige Entscheidung, aufzuhören.
Liebhardt: Eigentlich nur, ein gutes Leben zu haben. Und ich habe die Hoffnung, dass die Medizin in den zehn Jahren, die die Lunge vielleicht wieder hält, so weit ist, dass man keine Organspender mehr braucht. Sondern dass die Lunge aus dem 3-D-Drucker kommt oder aus Stammzellen im Reagenzglas gezüchtet wird - und ich vielleicht 80, oder wenigstens 60 Jahre alt werden kann.