Warum Gabi M. ausgerechnet an Elvis Presley dachte, als sie blutend auf dem Gehsteig lag und um ihr Leben rang? Es mag absurd klingen. Aber die 53-jährige Würzburgerin erinnert sich noch genau an den Moment. Und was war schon normal in diesen Minuten des 25. Juni 2021, als ein Mann in der Würzburger Innenstadt mit einem Messer Kunden und Passanten angriff?
Kurz zuvor hatte die Verkäuferin Gabi M. im Woolworth von einem Mann mit Messer gehört. Und eilig ihre Kundinnen und Kunden aus dem Kaufhaus hinausgetrieben. Nur schnell weg von dem damals 31-jährigen Somalier, der an jenem Freitag kurz nach 17 Uhr zwischen den Regalen seinen Opfern gnadenlos nachstellte und auf sie einstach. Die Verkäuferin reagierte besonnen - vielleicht, weil sie nicht zum ersten Mal in bedrohlicher Lage war. Vor Jahren hatte Gabi M. an ihrem damaligen Arbeitsplatz, einem Kaufhaus in Wuppertal, eine Bombendrohung miterlebt.
Besonnen und schnell reagiert: Kurze Anweisung und Alarm
Auch jetzt verlor sie nicht den Kopf. Sie wies eine Kollegin an, Alarm bei Vorgesetzten zu geben und trieb Kunden entschlossen zum Laden hinaus. Schon damit rettete die resolute 53-Jährige wahrscheinlich einigen Menschen das Leben. Vor dem Eingang sah Gabi M. dann das elfjährige Mädchen umherirren. Es hatte innen im Kaufhaus mit ansehen müssen, wie seine Mutter unter Stichen zusammengesunken war.
Das Mädchen habe "Mamita" in einer fremden Sprache gerufen, schildert Gabi M. im Gespräch mit dieser Redaktion. Sie habe das Kind in die Arme genommen, um es zu trösten. Doch dann kam der Täter auf der Suche nach weiteren Opfern - draußen vor dem Kaufhaus, auf dem an diesem Sommertag so belebten Barbarossaplatz - auf sie beide zugelaufen.
Der Täter eilte von Opfer zu Opfer
Gabi M. sagt, sie habe den Schmerz nicht gespürt, nur ein Zerren an ihrer Kleidung. Abdirahman J. stach dreimal in Nacken und Rücken der 53-Jährigen, die sich schützend zwischen ihn und das Kind gestellt hatte. Nach wenigen Schritten sei sie auf das Pflaster gesunken und habe das Blut an ihren Händen gesehen. Menschen seien weggerannt und hätten geschrien.
In trockenem Juristendeutsch heißt es in der Antragschrift der Generalstaatsanwaltschaft dazu: "Der Beschuldigte, der davon ausging, alles Erforderliche zur Tötung getan zu haben, ließ von der Geschädigten ab und attackierte sofort das Kind." Doch die Elfjährige konnte fliehen, weg vom Barbarossaplatz, wo sich der Angreifer dem nächsten Opfer zuwandte: einem Jungen, der mit dem Rücken zu ihm an der Bushaltestelle saß und Musik hörte – ohne etwas von der Gefahr zu ahnen.
Die Würzburgerin ist glühender Elvis-Fan
So erinnert sich Gabi M. jetzt – elf Monate später – als Zeugin vor Gericht und im Gespräch mit dieser Redaktion an den Würzburger Messerangriff. Das Elvis-T-Shirt, das sie trägt, ist das Statement eines glühenden Fans. Selbst im Zeugenstand hat sie am Freitag bei der Verhandlung in Veitshöchheim (Lkr. Würzburg) eine Tasche mit großem Elvis-Porträt dabei.
Die 53-Jährige war bereits in Memphis in den USA und, erzählt sie, hatte bei der Köchin des Stars in der Küche gesessen. Der Leibwächter des "King of Rock and Roll" war sogar ihr Trauzeuge, sagt Gabi M.. Ihr Leben als Fan kreist seit Jahrzehnten um den Sänger – schon lange vor der schrecklichen Tat.
Wenn sie von Elvis erzählt, werden die Gesten der Würzburgerin lebendig, ihre Augen leuchten und sie kann für Momente ausblenden, dass sie nur haarscharf mit dem Leben davongekommen ist. "Mir ging wirklich einen Moment lang der Gedanke durch den Kopf: Wenn ich jetzt sterben muss, sehe ich im Jenseits endlich Elvis."
Wie Elvis Gabi M. am 25. Juni 2021 doppelt half
Und dann spielte der Zufall am 25. Juni 2021 Schicksal: Ein 20-jähriger Soldat aus Volkach (Lkr. Kitzingen) sah nach der schwer verletzt am Boden liegenden Verkäuferin. Er hatte sie unter den Stichen zusammenbrechen sehen und gehörte zu den Mutigen, die sich dem Messerangreifer entgegengestellt hatten. Danach wollte er sehen, wie es der Verletzten geht. Sein Vorname: Elvis. Ausgerechnet. "Elvis hat sich um mich gekümmert", sagt Gabi M. und schmunzelt. Inzwischen hat sie den Hauptgefreiten Elvis Dick sogar getroffen, der von der Bundeswehr für sein Verhalten später geehrt wurde. "Auf einen Kaffee mit Elvis", und um sich zu bedanken. Nun sind die beiden Zeugen im Prozess.
Gabi M. war elf Tage in der Klinik, zehn Wochen war sie krank geschrieben. Ihre Schmerzen seien mittlerweile verschwunden, sagt die Verkäuferin. Die Erinnerung ist es nicht: An den Mann mit dem Messer. An die ersten Tage auf der Intensivstation. An die Vernehmungen der Polizei am Krankenbett. An die Nachricht, dass drei Frauen - darunter die Mutter des elfjährigen Mädchens - umgekommen waren. Und an die aufwendigen Antragsformulare der Berufsgenossenschaft nur wenige Tage nach der Tat, weil die Bürokratie rücksichtslos ihr Recht zur Abwicklung des Schadensfalles forderte.
Warum Gabi M. die Ehrung mit der Rettungsmedaille ablehnte
Gabi M. erinnert sich auch noch gut daran, wie sie später die silberne Rettungsmedaille in München von der Staatsregierung für ihre Heldentat überreicht bekommen sollte – und schwänzte. Die Verkäuferin, die sich kein Auto leisten kann, sah nicht ein, "dass ich die Fahrt nach München zahlen soll, damit sich Ministerpräsident Söder mit mir auf dem Bild präsentieren kann".
Sie begreife auch nicht, warum man sie zur Begutachtung der Folgeschäden nun zu einer Psychiaterin nach Bamberg schicken wolle, sagt die 53-Jährige. "Gibt es denn in Würzburg keine? Das kostet mich einen kompletten freien Arbeitstag."
"Frau M. hat Glück im Unglück gehabt - und überlebt", sagt ihr Anwalt Bernhard Löwenberg. Nur ein paar Narben zeigen noch, wo das Messer in ihren Körper eingedrungen war. Drei andere Frauen sind tot, ein Opfer sitzt im Rollstuhl, ein anderes kann seitdem einen Arm nicht mehr bewegen. An diesem Freitag bringt die resolute Zeugin ihre Aussage binnen zehn Minuten hinter sich. Und sie versichert auf Nachfrage von Thomas Schuster: "Ich komme gut damit klar." Mit Respekt in der Stimme sagt der Vorsitzende am Ende ihrer Zeugenaussage: "Ich sehe eine sehr starke Frau vor mir."
Der Messerangriff hat bei Gabi M. Spuren hinterlassen
Es sei für sie klar gewesen, dass sie wieder bei Woolworth an der Kasse arbeiten möchte, sagt Gabi M. im Gespräch mit der Redaktion. "Die Entscheidung hat sie gleich nach ein paar Tagen getroffen, noch im Krankenhaus", erinnert sich ihr Mann. Sie selbst sagt: Es sei ein schöner Moment gewesen, als sie wieder zur Arbeit gekommen sei. Kolleginnen und Kollegen samt Marktleiter hätten sich um sie versammelt, sie umarmt und willkommen geheißen. Und Kolleginnen hätten Verständnis gezeigt, wenn sie in der ersten Zeit ab und zu unkonzentriert wirkte, sich beim Abrechnen abends auch mal verzählte.
Aber dann sei da vor kurzem dieser Moment gewesen, als drei junge Männer lärmend an ihre Kasse drängten. Aggressiv und drohend seien sie ihr vorgekommen. Plötzlich habe sie nur noch weggewollt von der Kasse – rausrennen, wie am 25. Juni 2021, sagt Gabi M. Sie habe sich dann dazu gezwungen, ruhig zu bleiben. Die Kunden habe sie zu Ende bedient. Doch danach sei sie zur Tür gerannt, habe zu weinen begonnen. "Ich habe eine Kollegin um eine Zigarette gebeten - dabei habe ich doch vor 20 Jahren mit dem Rauchen aufgehört." Die sonst so robuste Frau wirkt zerbrechlich, als sie das erzählt.
Wird das Urteil ein Schlussstrich?
Gabi M. ist nun Nebenklägerin im Prozess gegen den Mann, der sie fast erstochen hat. Die Zeugenaussage hat doch Kraft gekostet, sagt sie am Freitagnachmittag. Sie wolle doch nicht jeden Tag im Prozess dabei sein. Als Nebenklägerin wäre ihr ein Platz im Gerichtssaal neben ihrem Anwalt Bernhard Löwenberg sicher. Manchmal denke sie, der Beschuldigte, der nun so hilflos wirkend mit seinen Fußfesseln in den Saal schlurft, spiele nur den Verrückten, um nicht ins Gefängnis zu müssen. Manchmal mache sie ihn in Gedanken möglichst klein, nenne ihn ein "armes Würstchen", sagt die 53-Jährige.
Ob sie mit all dem Erlebten abschließen kann, wenn wie geplant am 23. September das Urteil fällt? Und ob sie dann dabei sein will? Gabi M. zuckt mit den Schultern: "Ich weiß es nicht." Was sie ganz sicher weiß: "Dann fliege ich noch einmal nach Memphis, zu Elvis."