Freitagnachmittag, der 25. Juni 2021. Um genau 17.06 Uhr geht in der Integrierten Leitstelle in Würzburg der Notruf mit dem Stichwort ein: Messerstecherei in der Innenstadt. Um 17.07 Uhr heißt es: Amoklage. Binnen weniger Minuten sind die ersten Rettungskräfte vor Ort. Ihnen bietet sich ein Bild des Grauens, die Eindrücke sind auch ein Jahr später nicht aus den Köpfen gelöscht. Drei Menschen sterben, neun weitere werden zum Teil schwer verletzt.
Der Messerangriff in Würzburg hat auch die erfahrenen Rettungskräfte nachhaltig beeinflusst. Im Gespräch mit der Redaktion erinnern sich der Einsatzleiter der Rettungskräfte Uwe Kinstle (Johanniter), der Rettungsassistent (BRK) und Geschäftsführer des Zweckverbands Rettungsdienst- und Feuerwehralarmierung Paul Justice und Notarzt Gerhard Schwarzmann an das, was vor einem Jahr geschah. Und sie schildern, wie sie heute noch in manchen Momenten von Bildern des Attentats heimgesucht werden und was sie dagegen tun.
Einsatzleiter Uwe Kinstle und die Frage: "Haben wir alles richtig gemacht?"
Uwe Kinstle ist an jenem Freitag im Juni der diensthabende Einsatzleiter der Rettungskräfte. Um 17.11 Uhr, fünf Minuten nach der ersten Alarmierung, ist er am Einsatzort. "Ich habe die Schwerstverletzten vor dem Kaufhaus liegen sehen, irgendjemand wollte mir ein verletztes Kind in den Kommandowagen legen", erinnert er sich an die große Aufregung, die sofort zu spüren war. Noch weiß er nicht, dass im Woolworth weitere Verletzte liegen. Und Tote. Der Täter muss mit solch einer Wucht zugestochen haben, dass für drei Frauen jede Hilfe zu spät kommt.
Haben wir alles richtig gemacht? Hätten wir etwas anders machen sollen? Das sind die ersten Fragen, die ihn direkt nach dem Einsatz beschäftigten, sagt Kinstle. Das Fazit habe ihn beruhigt. Nach dem Axt-Attentat in Würzburg im Jahr 2016 seien in Zusammenarbeit mit der Universität Würzburg und der Sektion Notfallmedizin die Prozesse wissenschaftlich aufgearbeitet und optimiert worden. "Als klar war, dass der Einsatz aus polizeilicher und rettungsdienstlicher Sicht optimal verlaufen ist, mussten wir uns um uns selbst kümmern", sagt Kinstle und schluckt.
Die Bilder vom 25. Juni 2021 sind geblieben. Erst vor Kurzem, erzählt der Einsatzleiter, sei er nach einem Arztbesuch in der Innenstadt in den Woolworth gegangen, um etwas einzukaufen. "Es war das erste Mal seit der Messerattacke, dass ich das Geschäft betrat." Er sei nur bis in den vorderen Bereich gekommen - "dann musste ich raus, es ging nicht weiter". Das habe ihn selbst erschreckt.
Psychologische Hilfe ist enorm wichtig
Kinstle weiß von einigen Einsatzkräften, dass sie sich im Nachhinein Hilfe suchten. Bei anderen weiß er es nicht. "Vergessen kann man das Erlebte nicht, soviel ist sicher", sagt der Mann, der seit über 40 Jahren im Rettungsdienst tätig ist und den nichts so schnell erschüttern konnte.
150 Einsatzkräfte der Hilfsdienste sind am Tatabend im Einsatz, etwa 40 Kollegen ganz nah an den Verletzen, berichtet Kinstle. "Da hat es viel bedeutet, dass es noch in derselben Nacht ein Treffen für die Einsatzkräfte in den Räumen der Malteser gegeben hat." Zwei Tage später sei die Nachbesprechung gewesen, das "Debriefing" mit Notfallseelsorgern. "Es ist wichtig einen geschützten Raum zu haben, um das Erlebte für sich klar zu kriegen und auch mal zu weinen."
Kinstle lobt die gute Zusammenarbeit der verschiedenen Rettungsdienste Malteser, BRK und Johanniter, auch die Arbeit "Hand in Hand" mit den dazu gerufenen Notärzten und der Polizei. Diese habe den Einsatzort gut abgeschirmt und geschützt, "so dass wir uns sicher fühlten und unserer Arbeit nachgehen konnten". Mental habe geholfen, dass der Täter recht schnell gefasst war.
Auf einem Internationalen Kongress für Führungskräfte im Rettungsdienst hat Kinstle kürzlich den Einsatz beim Messer-Attentat vorgestellt. "Leider zeichnet Würzburg aus, dass wir das, was andere Städte noch niemals durchlebt haben, gleich zweimal mitmachen mussten." Die Besetzung beim Axt-Attentat im Jahr 2016 sei weitgehend dieselbe gewesen wie die im Juni 2021: "Wir sind unter den Rettungskräften untereinander sehr eng verzahnt, vertrauen uns und wissen wie jeder tickt." Das mache es insgesamt leichter.
Notarzt Gerhard Schwarzmann und das spontane Handeln im Feierabend
Während für Einsatzleiter Kinstle mit dem "Stichwort Amoklage" klar ist, dass etwas Dramatisches passiert sein muss, erwischt der Vorfall Gerhard Schwarzmann im Feierabend, in der Straßenbahn. In der Vergangenheit hat er als Leitender Notarzt schon viele Einsätze begleitet, auch das Axt-Attentat. An jenem Freitagnachmittag ist er eigentlich auf dem Nachhauseweg.
"Aus der privaten Situation ohne den rettungsdienstlichen Panzer unvermittelt in die höchste Verantwortung zu kommen, ist Wahnsinn", sagt Paul Justice voller Hochachtung. Schwarzmann sieht den großen Auflauf am Barbarossaplatz, sieht verletzte Menschen am Boden liegen. "Ich wusste sofort, dass ich helfen muss und schnappte mir das Notfallset aus der Straßenbahn." Als einer der ersten Helfer gelangt er ins Innere des Kaufhauses. Noch heute erschüttern ihn die grausamen Bilder der Verletzten und Toten. Und er berichtet offen, wie er wegen einer posttraumatischen Belastungsstörung psychologische Hilfe suchte.
Oft sei ihm durch den Kopf gegangen: "Was, wenn ich vier Minuten vorher am Barbarossaplatz gewesen wäre?" Er sei sich sicher, sagt Schwarzmann, der als Referent des Ärztlichen Direktors am Uniklinikum Würzburg arbeitet, dass er mit allen Mitteln versucht hätte, den Täter zu stoppen. Nach dem Axt-Attentat habe er sich Verhaltensmechanismen zurechtgelegt, wie er im Notfall agieren müsse.
Fassungslosigkeit aufgrund der Grausamkeit der Tat
Beim Blick auf die verstorbenen Frauen sei ihm sofort klar gewesen: "Das Verletzungsmuster ist so, dass die Personen keinerlei Chance hatten zu überleben. Das hat mich fassungslos gemacht". Als Rettungskraft sehe man viel Schlimmes, beispielsweise bei Unfällen. "Aber das war aktives Handeln", sagt der Arzt. "Das ist, was den Einsatz anders macht".
Bei der Versorgung einer schwerstverletzten Frau kommen ihm Minuten wie Stunden vor. Und an der Stelle im Woolworth, an der eine der toten Frauen liegt, sieht Schwarzmann plötzlich seine eigenen Kinder vor sich.
Noch heute ertrage er es nicht, wenn jemand nah hinter ihm steht, sagt der Arzt: "Nach 40 Jahren Rettungsdienst und Gutachtertätigkeit hat mich der Einsatz so ergriffen, es war wie ein Genickschlag." Schwarzmann will die Hemmschwelle brechen und Kollegen und Kolleginnen, die noch unter dem Erlebten leiden, dazu ermuntern, sich Hilfe zu suchen: "Es ist nichts Verwerfliches, es ist sogar absolut menschlich."
Rettungsassistent und Ausbilder für Einsatzkräfte, Paul Justice, und die Traurigkeit beim Erzählen
Paul Justice läuft es immer noch kalt den Rücken hinunter, wenn er an den Moment denkt, als sein Piepser ihm signalisierte: Amoklage. "Ich hatte gerade meine Arbeit im Landratsamt verlassen." Als Justice an der Juliuspromenade ankommt, hört er einen Schuss. "Retrograd weiß ich, das war der Schuss der Polizei auf den Täter. Aber in dem Moment konnte ich es erstmal nicht zuordnen."
Mit einer Kollegin läuft der Rettungsassistent die Kaiserstraße ab, um zu schauen, ob es weitere Verletzte gibt. Er spricht mit Menschen, die sich in umliegenden Geschäften verschanzt haben. "Die Gespräche und auch die Angst der teils unter Schock stehenden Menschen, von denen viele Augenzeugen waren, bleiben mir im Gedächtnis", sagt Justice. Und: "Während ich erzähle, kommt wieder Traurigkeit in mir auf."
Justice, seit Langem als führende ehrenamtliche Kraft im Rettungsdienst tätig, organisiert an jenem Freitagabend vor Ort eine Betreuungs- und Befragungsstelle für die vielen Betroffenen und Augenzeugen im Restaurant Habaneros. Schnell ist ihm klar, wie sehr "auch unsere eigenen Leute mit dem Gesehenem zu kämpfen haben". Er richtet eine psychosoziale Notversorgung für Einsatzkräfte ein. Das Zusammenwirken mit "hochprofessionellen und vertrauten Kollegen" habe ihm selbst an diesem Abend immer wieder Sicherheit vermittelt.
Täter vor Gericht: Mit Interesse verfolgen die Einsatzkräfte den Prozess
Jetzt hat der Prozess gegen den Messerangreifer begonnen. Kinstle, Schwarzmann und Justice sind selbst zwar alle drei nicht als Zeugen vor Gericht geladen. Doch sie verfolgen die Verhandlung vor dem Landgericht Würzburg mit Interesse und Aufmerksamkeit. Ob die Antragstellung auf dauerhafte Unterbringung in der Forensik einer psychiatrischen Klinik der gerechte Weg ist? "Wir waren viel zu nah am Geschehen dran. Diese Entscheidung müssen andere treffen", sagt Uwe Kinstle.
Was die Gedanken an zukünftige Einsätze angeht, meint Paul Justice: "Leider ist kein Szenario undenkbar. Die beiden Anschläge haben uns vor Augen geführt, dass Furchtbares nicht nur woanders auf der Welt passiert." Für die Rettungsorganisationen und Behörden gelte umso mehr: "Bereite dich auf das Schlimmste vor, aber hoffe auf das Beste."
Der Prozess gegen den Täter der Messerattacke wird voraussichtlich am Freitag, 27. Mai, um 10 Uhr fortgesetzt - in den Mainfrankensälen in Veitshöchheim (Lkr. Würzburg).
an diese Männer !!!
Diejenigen .... die "grosses Mitleid" für den Täter empfinden ; sollten den Bericht 2-3mal lesen. UND dann ... bitterlich weinen.
Ich hoffe für alle Beteiligten, dass sie den Vorfall gut verarbeiten und sich ihrer Bedeutung für die Gesellschaft bewusst sind.