
Sehen kann man sie nicht. Natürlich nicht. Auch unter dem Mikroskop ist mRNA nicht erkennbar. Etwas quasi Unsichtbares – das erschwert die Vorstellung, das Verständnis. Labormanagerin Christiane Albert-Weißenberger dreht das Mikro-Reaktionsgefäß. Sie deutet an den oberen Rand. Wenn man die Augen zusammenkneift, kann man einen hellen Schatten entdecken. "Das ist ein RNA-Pellet." Ein Pellet, in dem Trilliarden von mRNA-Molekülen stecken – und wie es am Helmholtz-Institut für RNA-basierte Infektionsforschung (HIRI) in Würzburg tagtäglich gewonnen wird. Wie funktioniert das? Woran wird hier geforscht? Und welche Rolle spielt Corona? Ein Besuch in den Laboren.
Ein Dienstagvormittag, die Schritte von Albert-Weißenberger hallen durch die Gänge. Konferenzräume, Arbeitszimmer, manche Türen schmücken Scherenschnitte von Viren. Eine Glastür trennt den Labortrakt vom Rest des Gebäudes. Das Institut für Molekulare Infektionsbiologie auf dem Gelände der Uniklinik fungiert als Übergangsquartier, bis der Neubau für das Helmholtz-Institut direkt daneben fertig ist. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus mehr als 20 Ländern forschen hier, analysieren, welche Mechanismen in einzelnen Zellen ablaufen, was Infektionen bewirken. Und welche Rolle RNA, Ribonukleinsäure, dabei spielt.
Die mRNA ist eine Art Bauplan, ein "Abbild der Erbinformationen"
RNA und im Besonderen die mRNA oder Boten-RNA ist durch die Pandemie plötzlich weltweit bekannt geworden. "Als die Corona-Impfstoffe aufkamen, wurde die Bevölkerung wohl zum ersten Mal mit mRNA konfrontiert", sagt Jörg Vogel, HIRI-Direktor und Lehrstuhlinhaber an der Medizinischen Fakultät. Seitdem bekomme man den Begriff, flapsig gesagt, fast jeden Tag um die Ohren gehauen. Was aber ist mRNA?
Einfach gesagt, "ein Abbild der Erbinformationen", eine Art Bauplan, sagt Vogel. Nach diesem Bauplan würden in den Zellen Aminosäuren aneinandergehängt und so Proteine hergestellt. Allein in einer menschlichen Zelle kommen mehr als hunderttausend mRNAs vor. Diese Winzigkeit macht die Teilchen unfassbar. Für Laien.
"Ein mRNA-Molekül liegt im Bereich von Attogramm", erklärt Vogel. Wobei 1000 Attogramm nur 0,000001 Nanogramm sind und beispielsweise schon ein Birkenpollen-Korn etwa 10 Nanogramm wiegt. Unvorstellbar klein und leicht. "Für uns als Forscher ist mRNA wahnsinnig groß", sagt Vogel, "bis zu tausendmal größer als herkömmliche Medikamente."
In der Medizin hätten die Corona- Impfstoffe von Biontech und Moderna diesem Prinzip zum Durchbruch verholfen: Sie schleusen die mRNA, den Bauplan für das Spike-Protein des Coronavirus, in die menschlichen Zellen ein und lösen dort eine Immunreaktion aus. Neu sei diese Technologie nicht, sagt Vogel. Die Grundlagenforschung beschäftige sich schon seit etlichen Jahren damit, etwa im Bereich der Krebstherapie.

Vogel selbst gilt als einer der führenden RNA-Experten, vor fünf Jahren hat er das HIRI in Würzburg gegründet. Weltweit ist es die erste Einrichtung, die RNA-Forschung mit der Infektionsbiologie verbindet. Mit dem Ausbruch der Pandemie rückte diese Grundlagenforschung schlagartig ins Rampenlicht. Das Interesse sei deutlich gestiegen, bestätigt Vogel. Interviewanfragen häufen sich, Studien werden leichter gefördert.
Zum Beispiel von Mathias Munschauer. Der Infektionsbiologe untersucht die Wechselwirkungen zwischen Proteinen eines Wirts und der RNA von Krankheitserregern wie Sars-CoV-2. Das heißt, "welche unserer eigenen Proteine das Coronavirus braucht, um sich zu vermehren", erklärt Vogel. Im Januar bekam Munschauer dafür eine Förderung von 1,5 Millionen Euro vom Europäischen Forschungsrat.
Das S3-Labor ist komplett von der Außenwelt abgeschlossen
Insgesamt arbeiten am HIRI in Würzburg 110 Beschäftigte und Forschende, mehr als 60 Labore stehen zur Verfügung. Auf zwei Stockwerken reihen sie sich aneinander. Immer wieder dringt Lachen aus den Räumen, junge Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in weißen Kitteln eilen über die Flure.

Die meisten Labore gehörten zur sogenannten Schutzstufe zwei, erklärt Christiane Albert-Weißenberger. In ihnen werde mit Erregern wie Salmonellen oder Colibakterien gearbeitet. Gleich zu Beginn der Pandemie sei ein Labor der Schutzstufe drei umgerüstet worden: Dort könnten nun Erreger wie HIV- oder eben Coronaviren erforscht werden. Unter besonderen Sicherheitsvorkehrungen.
Warnhinweise flankieren die schwere Schutztür, die zum S3-Labor führt. In einer Schleuse dahinter wird zunächst der Luftdruck auf Unterdruck abgesenkt, eintreten dürfen nur Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Sie müssen in dem Raum einen Vollschutz aus speziellen Anzügen, Handschuhen, Schuhen und Atemschutzgeräten tragen. "Nichts darf aus dem Labor nach draußen dringen", sagt Albert-Weißenberger. Die Luft wird mit einem Hochleistungsfilter (H14-Filter) gereinigt, bevor sie ins Freie gelangt.
In riesigen Kühlschränken lagern die Erreger, auch Sars-CoV-2. Die Forscher arbeiten damit an extra Sicherheitswerkbänken, aus denen die Luft permanent abgesaugt und gefiltert wird. "Das Labor ist von der Außenwelt komplett abgeschlossen", sagt Albert-Weißenberger. Eine "Havarie" habe es noch nie gegeben, nie sei ein gefährlicher Erreger unbeabsichtigt entwichen.
Aber wäre das möglich? "Aus meiner Sicht können wir das ausschließen", sagt die promovierte Biologin, die für die Sicherheit verantwortlich ist.

Albert-Weißenberger läuft weiter, über eine Treppe geht es ins zweite Stockwerk. Sie betritt einen hellen Raum, ein "normales" Labor der Schutzklasse zwei. Mehrere Tischreihen stehen parallel, auf Regalen lagern Reagenz- und Bechergläser, Röhrchen, Standkolben, Flaschen, manche leer, manche mit farbigen Substanzen gefüllt. Ein typischer Laborarbeitsplatz. Hier beispielsweise werde RNA aus Colibakterien gewonnen.
In den Laboren wird täglich RNA gewonnen
Die Labormanagerin zeigt auf mehrere Gefäße mit einer orange-braunen Flüssigkeit. In dem Nährmedium werden die Bakterien angezüchtet. Über Nacht kommen sie in den sogenannten Schüttelinkubator, in dem die Gefäße mit den Bakterien bei 37 Grad durchgerüttelt werden. "So können sie wachsen." Am nächsten Morgen folgt das Zentrifugieren, sagt Albert-Weißenberger, bevor schließlich die RNA aus den Bakterien isoliert werde.

Das passiert im Chemikalienabzug. In dem Schacht versetzen die Forschenden die Bakterien mit phenolhaltigen Chemikalien. Handschuhe sind Pflicht, um Verätzungen zu vermeiden, sagt Albert-Weißenberger.
Nur ein paar Räume weiter wird RNA aus Viren gewonnen. Das Verfahren ist ähnlich, genutzt wird es beispielsweise von der Forschungsgruppe von Antoine-Emmanuel Saliba. Ihr Fokus liegt auf der Einzelzellanalyse. Zusammen mit der Berliner Charité hat Saliba etwa untersucht, wie sich die Zellen unseres Immunsystems im Laufe einer Corona-Infektion verändern, berichtet Vogel. Ziel sei es dabei, frühzeitig vorhersagen zu können, wie schwer eine Infektion verlaufen wird.
"Das ist genau das, was wir bei uns am Institut wollen: Zusammenhänge und Veränderungen der Zellzusammensetzung erkennen – noch bevor der Arzt einem Patienten Symptome ansieht", sagt Institutsleiter Vogel. Nicht nur bei Corona, sondern auch bei bakteriellen Infektionen.
Die Pandemie hat der RNA-Forschung enorme Aufmerksamkeit beschert
Vogel sitzt in einem der Konferenzräume, der Blick aus den Fenstern reicht über die Würzburger Innenstadt bis zur Frankenwarte. Dass die mRNA-Technologie großes Potenzial habe, sei bekannt gewesen. Durch die Pandemie aber sei dieses deutlich schneller nutzbar geworden. "Dass es noch einmal einen Krankheitserreger gibt, den man weltweit nicht aufhalten kann, hätte keiner gedacht", sagt Vogel. Die Ausnahmesituation brachte der RNA- und vor allem der Impfstoff-Forschung neues Geld und Ressourcen. Und enorme Aufmerksamkeit.
In den HIRI-Laboren ist von der Aufregung um die mRNA nichts zu spüren. Die Arbeit mit den winzigen Molekülen ist für die jungen Forschenden selbstverständlich, ist Alltag. Eine Wissenschaftlerin öffnet den Schüttelinkubator und hebt einen Satz Erlenmeyerkolben heraus. In wenigen Stunden wird daraus neue RNA gewonnen sein. Unvorstellbar klein.