Nicht nur die Folgen des sexuellen Missbrauchs durch einen Priester des Bistums Würzburg beeinträchtigen sein Leben seit Jahrzehnten. Aktuell ist der Mann, der sich zum Schutz seiner Identität Bernd nennt, zudem entsetzt und verärgert. Grund ist die Entscheidung der Unabhängigen Kommission für Anerkennungsleistungen (UKA) in Bonn. Im Januar 2021 hat er seinen Antrag gestellt. Ein Jahr lang musste er auf den Bescheid warten. "Eine belastend lange Zeit", sagt Bernd im Gespräch mit dieser Redaktion. 2000 Euro seien auf sein Konto überwiesen worden. Erhofft hatte sich Bernd wesentlich mehr - so wie viele Betroffene.
Bei einem Anruf im Würzburger Ordinariat erfährt er, dass sich dort etliche Missbrauchsbetroffene gemeldet und beschwert hätten. Bernd sagt, sie seien wie er höchst unzufrieden über die geringe Entschädigung für das schwere Leid, das ihnen von Priestern der Diözese Würzburg angetan wurde.
"Hilferuf" von Betroffenen wegen der Entscheidungen der UKA
Auch der Betroffenenbeirat der Deutschen Bischofskonferenz bemängelt in seiner jüngsten Pressemitteilung zum ersten Tätigkeitsbericht der UKA, dass die Anerkennungszahlungen weit hinter den Erwartungen zurückbleiben. Bereits im Juni 2021 gab es von Betroffenen einen öffentlichen "Hilferuf" an die deutschen Bischöfe und Generalvikare: "In den uns bekannten Fällen wurde durch die Entscheidung der UKA weder das tatsächlich erlittene Leid widergespiegelt noch eine genugtuende, wertschätzende Anerkennungsleistung erbracht", heißt es darin.
Das neue Verfahren zu den Leistungen in Anerkennungen des Leids gibt es seit 1. Januar 2021. Seither können auch Missbrauchsbetroffene, die bereits in der Vergangenheit nach dem alten Verfahren Leistungen erhalten haben, erneut einen Antrag bei der eigens dafür von den deutschen Bischöfen eingerichteten UKA stellen. Vorgesehen sind für Härtefälle jetzt bis zu 50 000 Euro. Die Summe richtet sich nach der Schmerzensgeldhöhe bei staatlichen Verfahren. Für besonders schwere Härtefälle kann die UKA auch höhere Entschädigungen festsetzen.
Auch Matthias (Name von der Redaktion auf Wunsch geändert) hat wie Bernd im Januar 2021 einen erneuten Antrag gestellt. Er wartet noch auf eine Entscheidung der UKA. Bereits der erste Antrag habe vor einigen Jahren alles in ihm wieder aufgewühlt. Denn es wird eine umfassende Beschreibung verlangt, welche unerträglichen Dinge passiert sind.
Matthias fällt es schwer, über das ihm zugefügte Leid zu sprechen. Er sagt im Gespräch mit dieser Redaktion, er sei von einem Ordensmann in der ehemaligen Niederlassung der Missionare von der Heiligen Familie in Bad Neustadt-Lebenhan (Lkr. Rhön-Grabfeld) missbraucht worden. Mehrfach. Jede Nacht sei da diese entsetzliche Angst gewesen, ob der Geistliche wieder ihn oder einen anderen Jungen "auswählt". Diese Angst quäle ihn bis heute, führe immer wieder zu nervlichen Zusammenbrüchen, habe sein Leben, seine Beziehungen stark beeinflusst.
5000 Euro hat Matthias im ersten Verfahren erhalten – die damalige Höchstsumme. "Für dieses Geld musst du dein Innerstes nach außen kehren", sagt er. Viel Kraft habe es ihn auch gekostet, den zweiten Antrag zu stellen. "Der Missbrauch lässt einen nie los."
Bereits erhaltene Anerkennungsleistungen werden von der UKA verrechnet
Bernd hat ebenfalls wie Matthias vor Jahren 5000 Euro erhalten. Was Bernd nicht wusste: Bereits gewährte Anerkennungsleistungen werden mit dem neuen Antrag verrechnet. Die UKA hat ihm insgesamt 7000 Euro zuerkannt. Abzüglich der bereits erhaltenen 5000 Euro bleiben 2000 Euro übrig. Im Benachrichtigungsbrief der UKA an Bernd steht, dass "alle geschilderten Tatumstände wie auch die Auswirkungen der sexualisierten Gewalt auf Ihren Werdegang und Ihr Leben sowie ein mögliches institutionelles Versagen berücksichtigt" worden seien.
Bis heute hat Bernd dunkle Phasen, fällt immer wieder in ein tiefes Loch. "Ich weiß mir zwar zu helfen, auch dank der Therapie", sagt er. Aber es sei nicht einfach. Seiner Frau habe er seinen Missbrauch vor der Heirat anvertraut. Seinen mittlerweile erwachsenen Kindern konnte er jedoch erst vor kurzem sagen, dass er als Internatsschüler sexuell missbraucht wurde. "Dieses Gespräch lag mir vorab sehr im Magen. Meine Kinder haben jedoch sehr empathisch und einfühlsam reagiert", sagt Bernd. "Sie haben jetzt mehr Respekt vor meiner Lebensleistung im Sinne von: 'Mensch Vater, du hast dein Leben trotzdem gut auf die Reihe bekommen'."
Scham über das Erlittene ließ Betroffenen schweigen
Bernd besuchte das einstige bischöfliche katholische Knabeninternat Kilianeum in Würzburg. Nicht dort seien die sexuellen Übergriffe geschehen, sondern außerhalb bei Freizeitaktivitäten. Seine Stellung als Präfekt (ständiger Betreuer und Begleiter der Seminaristen) habe der Priester ausgenutzt, um mit den Jungen in engen Kontakt zu kommen. Somit sei er dem erwachsenen Mann ausgeliefert gewesen und habe sich nicht wehren können, sagt Bernd. Und er habe es seinen Eltern nicht sagen können, die den Geistlichen verehrten. Bernds Eindruck heute: "Dieser priesterliche Sozialpädagoge ist sehr strategisch vorgegangen und hat mich gezielt ausgesucht."
2008, über 30 Jahre nach dem Missbrauch, hat sich Bernd an den diözesanen Ansprechpartner gewandt: Das war damals Domkapitular Heinz Geist. "Vorher war es mir wegen der Scham über das Erlittene nicht möglich", sagt Bernd. Geist kannte er aus dessen Zeit im Knabeninternat. Er war seinerzeit der Spiritual im Kilianeum. Geist reagierte laut Bernd verständnisvoll. "Er hat aber mit dem Beschuldigten im Internat zusammengearbeitet." Ein Loyalitätskonflikt? Bernd weiß es nicht, nur: "Es gab eine kirchenrechtliche Untersuchung, meine Anhörung war wie vor einem Tribunal." Strafrechtlich war sein Fall verjährt.
Jetzt möchte Bernd genau wissen, warum sein anerkanntes Leid letztlich mit einem "Betrag aus der Portokasse des bischöflichen Stuhls" abgegolten wird. "Ich komme mir wie ein Bittsteller vor."
Matthias liegt noch keine Benachrichtigung vor, dass die UKA über seinen zweiten Antrag entschieden hat. Das hat einen Grund. Er habe erst im vergangenen Jahr erfahren, dass nicht alle Orden sich an dem neuen Anerkennungsverfahren mit den neuen höheren Leistungen beteiligen. Erst im Herbst 2021 habe sich "sein" Orden angeschlossen. Ab da konnte die UKA seinen Antrag annehmen. "Das war zum einen für mich eine Zitterpartie, zum anderen geht die belastende Warterei weiter, bis die UKA sich bei mir meldet", sagt Matthias.
Eine Person erhält sehr hohe Anerkennungsleistung
Es gibt auch eine Person, die sich nicht über die Entscheidung der UKA beschwert. Dieses Würzburger Missbrauchsopfer, das anonym bleiben möchte, sagte bei einem Gespräch mit dieser Redaktion, dass es eine sehr hohe Anerkennungsleistung aufgrund ihres schweren Missbrauchs erhalten habe. Sie liege - abzüglich der anrechenbaren Vorleistung – um einiges über der festgesetzten Höchstsumme von 50 000 Euro. Der Betroffene Bernd zeigt sich darüber verwundert, fragt nach der Transparenz. Nach welchen Kriterien entscheidet die UKA?
Fest steht: Die Anerkennung ist eine freiwillige Leistung, eine Rechtspflicht besteht nicht, heißt es in der Ordnung für das Verfahren zur Anerkennung des Leids.
Würzburgs Bischof Franz Jung sagte auf Nachfrage bei der Jahresauftakt-Pressekonferenz im Februar, dass es auch in anderen Bistümern ein Problem sei, dass die UKA keine Begründung für ihre Entscheidungen gebe. "Wir haben auch Fälle, wo Betroffene nicht zufrieden sind mit den Zahlungen, die geleistet wurden. Ich selbst habe interveniert, jetzt auch nochmal persönlich." Jung weist darauf hin, dass die Bischofskonferenz beschlossen habe, dass Betroffene einen einmaligen Rekurs einlegen können gegen die Entscheidung der UKA. "Dieses Verfahren ist noch nicht genau beschrieben, wird jetzt aber auf den Weg gebracht", so Jung.
"Schöne Worte", meint Bernd dazu. "Ich habe aber die Befürchtung, dass sie keine Konsequenzen haben werden, denn der Bischof ist Teil der Bischofskonferenz, die die UKA ins Leben gerufen hat." Bernd ist "bitter enttäuscht, insbesondere auch von Bischof Franz Jung". Er will Widerspruch bei der UKA einlegen.
Und die 7000 sind in etwa das, was ein Opfer von Missbrauch als Schmerzensgeld von einem staatlichen Gericht zu erwarten hätte!
1) Die Höhe der Entschädigungszahlungen orientiert sich an den Zahlungen, die auch bei einem gerichtlichen Verfahren bei einem staatlichen Gericht rausgekommen wären!
2) Ein Großteil der Fälle wäre nach staatlichem Recht verjährt, da würde gar nichts rauskommen, weder strafrechtlich noch finanziell! Da haben Sie allerdings recht, hier unterwirft sich die Kirche nicht den staatlichen Vorgaben, sondern stellt Täter (falls sie noch leben) TROTZ VERJÄHRUNG vor ein kirchliches Gericht - und zahlt trotzdem Entschädigungen. Dieses Vorgehen entspricht nun so absolut nicht staatlich-weltlichen Regelungen, denn dort würde es heißen: Vorwurf verjährt - Akte geschlossen (ohne dass überhaupt ermittelt würde?!)
Und wenn ein Opfer sich vor 40 Jahren schon an die Justiz gewandt hätte, wäre vor 40 Jahren das selbe Ergebnis rausgekommen wie heute!
ABER: vor 40 Jahren hat man erst mal so gut wie keinem Opfer von Missbrauch geglaubt, egal ob dieser Missbrauch in der Kirche passiert ist oder sonstwo!
Das ist kein Problem der Kirche - sondern allgemein gesellschaftlich - leider!
Zitat aus dem Artikel: „ Die Summe richtet sich nach der Schmerzensgeldhöhe bei staatlichen Verfahren.“
Wer Summen wie vor amerikanischen Gerichten erwartet hat, muss erkennen: das war eine Illusion! Solche Summen gibt es auch bei staatlichen Gerichten nicht - und an den dort üblichen Beträgen orientiert sich die Kommission!