Warum, um Himmels Willen, muss der diese unappetitliche Geschichte Jahrzehnte später an die große Glocke hängen. Was soll das jetzt noch bringen? So oder so ähnlich dachten tatsächlich manche, als die Main-Post im Herbst 2008 erstmals über den Fall Lebenhan berichtete.
Mit „der“ war Bernhard Rasche gemeint. Ein paar Wochen zuvor hatte der heute 51-Jährige bei der Kirche angezeigt, was er in den 70er Jahren als junger Internatsschüler im Kloster Lebenhan miterlebt hatte: vielfachen sexuellen Missbrauch von Mitschülern, begangen über Jahre von einem Pater, der die Jungen obendrein brutal schlug.
Warum also kam Rasche erst jetzt damit, fast 40 Jahre später? „Es sind bestimmte Erlebnisse, die einen dazu zwingen, sich damit auseinanderzusetzen“, erklärt der gebürtige Bischofsheimer, der die Missionsschule St. Kilian in Lebenhan von 1970 bis 1974 besuchte.
Jahrelange Verdrängung
Den Zeitpunkt kann man nicht bestimmen, bis es soweit ist, können Jahrzehnte vergehen. Bis dahin verdrängt man das Geschehene. „Es ist einem in der Regel nicht bewusst, wie einen das Erlebte verändert hat.“ Bei ihm hat ein Brief, dem ihm eine Bekannte geschrieben hat, die Erinnerungen an Lebenhan ausgelöst.
Seit Rasche an die Öffentlichkeit ging, ist er für Missbrauchsopfer nach seinen Worten zu einer Art Vertrauensperson geworden. Auch für jene, die es wie er schafften, die Zudringlichkeiten des Paters abzuwehren. „Manche haben jahrelang gezittert. Die leiden heute noch. Auch das sind Opfer.“
Nach der Anzeige tat die Kirche, was die Leitlinien der Deutschen Bischofskonferenz in solchen Fällen vorsehen: Der Orden „Missionare von der Heiligen Familie“, zu dem das inzwischen aufgelöste Kloster Lebenhan gehörte, leitete eine sogenannte kirchenrechtliche Voruntersuchung ein, die Rasches schlimmen Vorwürfen nachging. Das Ergebnis ist bekannt. Der heute 73 Jahre alte Pater, der von 1966 bis 1978 in Lebenhan tätig war und später in den Bistümern Aachen und Mainz als Seelsorger wirkte, gestand.
Offiziell ging man damals von 16 Missbrauchsopfern aus – die Zahl ergab sich aus den Angaben des Täters. Strafrechtlich war nichts mehr zu machen; die furchtbaren Taten des Geistlichen in Lebenhan waren verjährt. Der Mann durfte unter Auflagen im Orden bleiben. Inzwischen lebt er in einem Kloster im Westen Deutschlands.
Stellvertretender Provinzial Pater Michael Baumbach
Die Ordensleitung rief die Betroffenen auf, sich zu melden, und bot ihre Unterstützung an. „Dabei steht vor allem das Bemühen um Hilfen im Mittelpunkt, die die Opfer in die Lage versetzen, mit ihren leidvollen Erfahrungen besser leben zu können – sofern das überhaupt möglich ist“, erklärte Pater Michael Baumbach, stellvertretender Provinzial des Ordens, damals. Die Diözese Würzburg hielt sich – zumindest öffentlich – weitgehend aus dem Fall heraus. Zuständig sei der Orden, hieß es stets.
Heute, knapp anderthalb Jahre nach Abschluss der kircheninternen Untersuchung, geht Bernhard Rasche sowohl mit dem Orden als auch mit der Diözese hart ins Gericht. Der studierte Theologe hat auf der Internetseite „netzwerkB“, einem Forum Betroffener sexualisierter Gewalt, zuletzt zwei offene Briefe veröffentlicht. Einer richtet sich unter anderem an die Missionare von der Heiligen Familie und das Bistum Würzburg. Darin erhebt er schwere Vorwürfe.
„Der Orden hat mit seinem Handeln die Verjährung bewusst herbeigeführt“, schreibt Rasche. Er kann sich nicht vorstellen, dass kein anderer Pater damals etwas mitbekommen hat. Er ist davon überzeugt, dass andere Pater etwas mitbekommen haben. Bis heute werde „die beliebte These des Einzeltäters zur Vertuschung der eigenen Verstrickung“ des Ordens aufrechterhalten. Das nenne er nicht „Heilige Familie“, sondern eine „kriminelle Vereinigung“.
Starker Tobak. Die Ordensleitung hat noch nicht entschieden, wie sie darauf reagieren wird. „Es gibt jede Menge Unterstellungen“, sagt Pater Baumbach, „wir müssen sehr vorsichtig damit umgehen.“ Der zweite Mann an der Spitze der Missionare von der Heiligen Familie spricht von Verleumdung. „Das ist kein Ausrutscher. Wir nehmen Herrn Rasche sehr ernst“, sagt Baumbach.
Bernhard Rasche verlangt, dass die Vorgänge lückenlos ans Tageslicht kommen und dass der Orden Verantwortung übernimmt. „Es gibt nach wie vor keine Aufklärung“, sagt er im Gespräch mit der Main-Post. Die Taten seien dem einen Pater zugeordnet worden, „dabei belässt man es“. Doch es habe einen anderen Ordensangehörigen gegeben, der verletzte Schüler zur ärztlichen Behandlung nach Bad Neustadt brachte. Also mindestens ein Mitwisser? Pater Baumbach weist die Vorwürfe zurück. Schon im Zuge der kirchenrechtlichen Voruntersuchung seien andere Lebenhaner Pater aus der fraglichen Zeit angehört worden. „Selbstverständlich wurden die damals gefragt. Mit allen, die in Frage kommen, wurde gesprochen“, erklärt der stellvertretende Provinzial. „Das Ergebnis war: Es wusste keiner.“ Einige ehemalige Lebenhaner Missionspater sind aber schon gestorben. Dann räumt Baumbach ein: „Vielleicht hat man es an der einen oder anderen Stelle geahnt.“
Und was ist mit der Verantwortung des Ordens? „Der, der verantwortlich ist, wird in dem offenen Brief gar nicht erwähnt“, kritisiert Baumbach. „Die Verantwortung, die wir übernehmen konnten, war für Aufklärung zu sorgen. Ich glaube, das haben wir ganz gut hingekriegt.“
Angelegenheit des Ordens
Unverantwortlich hätte der Orden nur gehandelt, wenn man etwas gewusst hätte, findet Baumbach. Doch die Ordensgemeinschaft sei nicht mit den Taten des Geistlichen „verwoben“. Rasches Forderung nach Schmerzensgeld für die Opfer erteilt er auch aus diesem Grund eine Absage. Der stellvertretende Provinzial vergleicht seine Organisation mit einer Fußballmannschaft. Wenn einer aus dem Team einen gegnerischen Spieler vorsätzlich verletzte, komme auch nicht die Mannschaft für die Arztkosten auf.
Entschädigungszahlungen lehnt Baumbach aber nicht gänzlich ab. Der Orden sei bereit, sich an einem Fonds für Missbrauchsopfer zu beteiligen, wenn der Runde Tisch unter Leitung der Bundesregierung sich darauf einigen sollte. „Das halten wir für sehr sinnvoll.“ Der Runde Tisch, an dem auch Vertreter der betroffenen kirchlichen Organisationen sitzen, kommt an diesem Freitag erstmals zusammen.
Bernhard Rasche hat in seinem Brief auch der Diözese einige Forderungen unterbreitet. Unter anderem will er „endlich klare und entschiedene Pastoral in meiner Heimat, um die Leiden der Opfer und das falsche Handeln der Diözese zum Thema zu machen“. In Würzburg ist man wie schon vor eineinhalb Jahren der Auffassung, der Missbrauch in Lebenhan ist Sache der Missionare von der Heiligen Familie. „Dann soll er sich an den Orden wenden“, empfiehlt Bistumssprecher Bernhard Schweßinger.
Missbrauch im Internat
Den Vorwurf des sexuellen Missbrauchs erhob ein ehemaliger Schüler des Internats der Ordensgemeinschaft „Missionare von der Heiligen Familie“ im Oktober 2008 gegen einen Pater. Der soll Mitte der 1970er Jahre nachts in den Schlafsaal gekommen sein und sich an Jungen vergangen haben.
Der Orden beauftragte eine Kommission, bestehend aus einer früheren Polizeikommissarin und einer Kirchenrechtsprofessorin, die den Vorwürfen nachgehen sollte.
Im Dezember 2008 ist die Untersuchung abgeschlossen. Die Kommission spricht von „zahlreichen sexuellen Missbrauchshandlungen unterschiedlicher Schwere von mindestens 16 Buben“. In der Folge dieses Abschlussberichts bittet der geständige Priester um seine Entlassung. Im Juli 2009 entlässt Papst Benedikt den heute 72-Jährigen aus dem Klerikerstand. Strafrechtlich waren die Taten bereits verjährt, so dass nur noch kirchenrechtliche Schritte unternommen werden konnten.