Aufbau, Aufwärmen, auf geht's. Die Kinder lassen sich an diesem Nachmittag nicht lange bitten, als ihre Trainerin Annette Wolz ruft: Drei Runden rennen. Viele nackte Füße platschen durch die Turnhalle am Ferdinandeum in Würzburg. Dort findet das inklusive Kinderturnen statt, das Wolz leitet.
Nach dem Laufen stürzen sich die Kinder auf die Geräte und Hindernisse, die zuvor aufgebaut wurden. Die Jüngsten können gerade laufen, das älteste Kind ist zehn Jahre alt. Manche haben eine Behinderung, andere nicht. Ihre Eltern und Trainerin Annette Wolz haben die Seile ausgerollt, eine Wippplatte herausgeholt und eine Bank auf einen hohen Turnkasten gelegt. Auf der anderen Seite des Kastens stapeln sich dicke Matten – wie ein Berg, den es zu erklimmen gilt, und von dem man sich auf der anderen Seite herunterrollen lassen kann. Auch eine Art Bällebad mit Schaumstoffteilen gibt es und überall liegen Schaumstoff-Bauklötze in Übergröße herum. Es riecht nach Turnhallenboden und Sommerwärme.
Sport und Bewegung für Kinder mit Behinderung
Der zehnjährige Jonathan und sein Vater Daniel Herold sind heute auch dabei. Jonathan, oder Joni, wie ihn alle nennen, hat eine geistige Behinderung und körperliche Einschränkungen, berichtet sein Vater. Er kann sich sprachlich nicht ohne Probleme verständigen. Aber als er von einem Fuß auf den anderen trippelt, merkt man: Er freut sich, hier zu sein. Sein Vater fragt ihn, was er machen möchte und übersetzt die prompte Antwort: klettern!
Also läuft Jonathan die Bank hinauf, die an den hohen Turnkasten angelehnt ist. Den ersten Schritt verfehlt er, aber mit Unterstützung seines Vaters schafft er es hoch. Oben lässt er sich auf den Mattenberg plumpsen und wartet, bis auf der anderen Seite Platz ist. Dann rollt er langsam nach unten.
Jonathan findet Gefallen am Balanceakt auf der Turnbank und klettert mit der Hilfe seines Vaters und Trainerin Wolz ein ums andere Mal nach oben. Dann springt Wolz auf den Mattenberg und hilft ihm, rückwärts herunterzurollen. Jonathan lacht glockenhell. Beim nächsten Mal zieht Wolz ihn an den Füßen runter, er grinst fröhlich. Es macht ein lautes Klatschgeräusch, wenn er mit Schwung auf die untere Matte platscht. Jonathan kichert. Sein Vater Daniel Herold sagt, die Hindernisse und Klettermöglichkeiten seien jedes Mal anders aufgebaut. "Manchmal springt Joni auch, wenn es nicht zu hoch ist. Das macht jeder anders, wie er will."
Um Herold herum und in der ganzen Halle wuselt es. Überall klettern, schaukeln, springen, balancieren und rennen Kinder, rufen und schreien. Dazwischen tummeln sich die Eltern. Viele von ihnen, einige Kinder und auch die Übungsleiterin tragen ein leuchtend blaues T-Shirt, auf dem "Annettes Kinderturnen" steht und: "Der Verein, der alle bewegt". In ihren Turn-, Schwimm- und anderen Kursen seien alle Kinder willkommen, sagt Wolz: "Ich nehme wirklich alle. Wenn ich irgendeinen wegschicken muss, bin ich schlecht."
Ihr Kinderturnen sei anders, sagt Wolz, "weil ich besser sein muss als andere Übungsleiter. Hier muss ich gucken, dass ich es so aufbaue, dass nichts passieren kann. Und ich muss die Kinder fördern und fordern." Seit 2001 gibt es ihren Verein. "Ich bin der Meinung, wir sind alle eine Gesellschaft, egal ob schwarz, weiß, kariert, krank oder gesund, und wir müssen zusammen was machen."
Am anderen Ende der Turnhalle tummeln sich derweil Kinder zwischen den großen Schaumstoffbauklötzen, unter ihnen der sechsjährige Jakob. Für manche Strecken nutzt er einen Rollator, längere Strecken fährt er im Rollstuhl, wie sein Vater Niels Krumm erzählt. Mit dem Rollator ist Jakob flink unterwegs und flitzt quer durch die Halle. Nachdem er zwischen den Bauklötzen gespielt hat, auf der Mattenrolle hin- und hergerollt und auf der großen Wippplatte aus Holz hin- und hergewippt ist, zieht es auch ihn zu den dicken Matten am Fuße des Turnkastens.
Während Jakob dort spielt und herumrollt, schnappt sich der dreijährige Leo seinen Rollator und spielt damit, macht ein paar Schritte mit dem Gerät. "Die machen ja nichts kaputt", sagt eine Mutter. Für die Kinder sind solche Hilfsmittel völlig normal. Auch zwei Kinder mit Down-Syndrom sind Teil der Gruppe, ebenso ein Kind mit Gendefekt – sie setzen heute wegen der Hitze oder Erkrankung aus. In der Halle ist es im Sommer warm und stickig.
Berührungsängste abgebaut
Jutta Härschnitz, die mit ihrer fünfjährigen Leni gekommen ist, berichtet, dass ihre Tochter am Anfang noch Berührungsängste hatte vor ungewohnten Situationen mit den anderen Kindern. "Mittlerweile ist das eine Selbstverständlichkeit. Das war mir so wichtig", sagt sie.
Jonathan ist inzwischen ausgepowert und ruht sich etwas aus. Unterdessen macht Sebastian Sauer vor, wie man die Balance auf der Bank findet: Er klettert im Handstand die Bank hoch. Sauer ist mit seiner Tochter Helena zum Kinderturnen gekommen und nutzt selbst einen Rollstuhl. Direkt hinter ihm robbt Jakob auf dem Bauch liegend mit den Armen hoch, während Trainerin Wolz ihn anfeuert: "Zieh! Weiter! Und Ziehen!" Als Jakob es geschafft hat, freut er sich mit einer Umarmung gemeinsam mit seinem Vater.
"Das ist Kinderturnen, wie es sein sollte", sagt Sebastian Sauer. "Es ist wichtig, dass es nicht Kindersport für Behinderte und Kindersport für Nicht-Behinderte gibt." Wer im Alltag der Diversität von Menschen begegnet, baue Vorurteile ab, oder lasse sie gar nicht erst aufkommen, meint Sauer.
Leo, der zuvor schon mit dem Rollator spielte, macht es Jakob nach und zieht sich ebenfalls bäuchlings nach oben. Einige andere Kinder begeistern sich ebenfalls für das neue Manöver. "Ist doch super, wenn sich einer was vom anderen abguckt", findet Jonathans Vater.
Plötzlich schallt Wolz' Stimme durch den Raum: "Aufräumen!" Die Zeit im Getummel der Kinderturnstunde geht schnell um. Der Abbau ist fix erledigt, dann geht es in den Sitzkreis in der Mitte der Halle. Zum Abschied singen alle gemeinsam das Kinderlied "Alle Leut'": "Alle Leut', alle Leut', gehen jetzt nach Haus. Große Leute, kleine Leute, dicke Leute, dünne Leute". Genauso wie laute, leise, alte und junge Leute. Eben Alle.