Als Horst Klein und Monika Osberghaus 2019 ein Kinderbuch über Behinderungen und Inklusion herausgaben, wollten sie vor allem eines: Kinder für das Thema interessieren und dabei nicht langweilen. Klein ist Illustrator und hat selbst einen Sohn mit Down-Syndrom, Osberghaus leitet den Klett-Kinderbuchverlag. Beiden war klar, dass ihr Titel "Alle behindert! 25 spannende und bekannte Beeinträchtigungen in Wort und Bild" provozieren wird.
Das tat er auch, aber es gab vor allem Anerkennung und Auszeichnungen. Von der "taz" bis zur Frankfurter Allgemeinen Zeitung wurde das Buch kräftig gelobt, Kinderbuchpreise folgten. Schließlich entdeckte die Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) das Buch und nahm es in ihre Schriftenreihe zum Thema Inklusion auf.
Aufgebaut wie ein Freundebuch
Der Inhalt ist schnell erklärt: In Form eines bei Kindergarten- und Grundschulkindern beliebten Freundebuches werden 24 Steckbriefe von Kindern veröffentlicht. Darunter Kinder mit Down-Syndrom, Querschnittslähmung, Epilepsie oder Sehbehinderung. Aber auch "Rüpel", "Hochbegabte", "Tussi" oder "Angeber" werden als Menschen mit Behinderung beschrieben. Zu jedem Steckbrief werden Fragen beantwortet: "Wo kommt das her?", "Geht das wieder weg?" oder auch "Was ist daran einfach nur doof?"
Doch genau dieses Steckbriefhafte geht Prof. Dino Capovilla, Lehrstuhlinhaber für Pädagogik bei Sehbeeinträchtigungen an der Universität Würzburg, gewaltig gegen den Strich. Seine Kritik: Behinderte Menschen würden in ein Raster gesteckt. Capovilla ist selbst sehbehindert und sagt, nicht einmal er selbst könne nachempfinden, was es heißt behindert zu sein. Er könne das nur aus seiner Perspektive betrachten. Es gelte, die Vielfalt der Menschen zu erkennen. Kategorien wie "Blindheit" oder "Rollstuhlfahrer" würden da nicht weiter helfen: "Jede behinderte Person ist einzigartig und auch nur in bestimmten Momenten am Tag behindert. Das muss man erkennen", sagt Capovilla. "Es gibt Situationen, wo diese Person Unterstützung braucht, wo sie behindert wird." Die meiste Zeit sei sie es jedoch nicht.
Würzburger Pädagoge nennt Kinderbuch voyeuristisch
Anfang Januar verfasste der Würzburger Pädagogik-Professor einen offenen Brief an die Bundeszentrale für politische Bildung mit der Aufforderung, sich von der Publikation zu distanzieren und sie aus dem Programm zu nehmen. Den Brief unterzeichneten elf weitere Lehrstuhlinhaber der Bereiche Inklusionsforschung und Pädagogik bei Beeinträchtigungen sowie Bildungsdidaktiker aus ganz Deutschland - unter anderem die Würzburger Professoren Stephan Ellinger und Christoph Ratz.
Der Brief geht scharf mit dem Buch ins Gericht. Es erschöpfe sich in Vorurteilen und sei schlicht "Voyeurismus". Und es zeige eine "bemerkenswerte Geschichtsvergessenheit". Menschen seien schon immer vom distanzierten Anblick von zur Schau gestellten Behinderungen fasziniert gewesen, schreiben die Unterzeichner. Für ihn sei dieses Buch eine dem Zeitgeist angepasste Variante der "Freakshow-Flyer", sagt Capovilla.
Verlegerin: Betroffene haben am Buch mitgearbeitet
Einen Vorwurf, den die Leipziger Co-Autorin und Verlegerin Monika Osberghaus empört als "völligen Quatsch" zurückweist. Natürlich sei es eine "Schieflage" zu sagen, alle sind behindert. Doch man sei ganz bewusst über die klassische Definition für Behinderung hinausgegangen, um möglichst viele Kinder ohne Behinderung für das Thema zu interessieren.
Rund 200 behinderte Kinder und ihre Familien hätten an dem Buch mitgearbeitet, sagt Osberghaus. Die meisten Zitate und Beschreibungen aus dem Alltag seien von den Beteiligten selbst so gesagt worden. Man habe ein Buch machen wollen, das für alle Kinder spannend ist - da dürfe das Wort "spannend" auch im Titel stehen. Sie selbst habe im Verlauf der Arbeit gemerkt, wie reich die Welt der behinderten Kinder sei. Sie sollten sich darin wiederfinden - genauso wie alle anderen Kinder, die nach der Lektüre wüssten, was es bedeutet behindert zu sein. Und die dann Ausdrücke wie "Spasti" nicht mehr nur als Schimpfwort kennen würden.
Verlegerin wirft Wissenschaftlern Zensur vor
Sie stelle grundsätzlich fest, dass vor allem Erwachsene in Kinderbüchern zunehmend nach einer heilen Welt suchen würden, sagt die Verlegerin. Doch dass eine Kampagne, die ein Buch vom Markt nehmen will, ausgerechnet aus der Wissenschaft komme, erschrecke sie. Capovilla habe auch Rezensenten und Jury-Mitglieder, die das Buch positiv bewertet hatten, angeschrieben und bedrängt, ihre Meinung zu revidieren, sagt Osberghaus. Das sei keine Kritik, sondern Zensur. Doch das Buch bleibt im Verlagsprogramm, eine weitere Auflage ist in Arbeit.
Er könne den Verwurf der Zensur bis zu einem gewissen Grad sogar verstehen, sagt Capovilla. Denn es würde ihn in der Tat nicht stören, wenn dieses Buch vom Markt verschwinden würde. Es schaffe kein Bewusstsein für Behinderungen, sondern kategorisiere behinderte Personen. Wenn dann zum Beispiel der "Angeber" in so eine Kategorie gesteckt werde, bedeute dies, dass das behinderte Kind sich einfach mal genau wie ein Angeber benehmen könne. "Das relativiert", bemängelt der Sonderpädagogik-Professor. Und stellt die Frage: Was, wenn man nach selbem Muster Religionen, Hautfarben oder sexuelle Orientierung in Kategorien gesteckt hätte? "Der Aufschrei wäre groß gewesen", sagt Capovilla, "aber bei beeinträchtigten Kindern glaubt man das machen zu können".
Inklusion aus vielfältigen Perspektiven
Es sei wohl vom Kinderbuch-Verlag gut gemeint gewesen, das Thema Inklusion aufzugreifen, sagt der Würzburger Pädagoge. Aber man müsse mehr Bewusstsein für Behinderungen schaffen, nicht für behinderte Menschen. Sein Brief wende sich deshalb an die Bundeszentrale für politische Bildung, die das Buch in ihrer Schriftenreihe hat.
Bei der Bundeszentrale heißt es auf Nachfrage, das Buch sei vergriffen und werde auch nicht nachgedruckt. Der bpb sei es ein Anliegen, das wichtige Thema Inklusion durch möglichst vielfältige Perspektiven abzubilden. Dabei sei man auf das vielfach positiv besprochene und mit Preisen ausgezeichnete Buch gestoßen.
Juror: Kunstfreiheit auch für Kinderliteratur
Capovilla hatte das Schreiben auch Rezensenten und Jury-Mitgliedern gesandt. Wie er sagt, mit der Bitte, sich "in eine kritische inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Thema Behinderung zu begeben", sofern sie ihr Lob oder ihre Auszeichnung "nicht als ihr letztes Statement stehen lassen wollen". Jurymitglied und Kinderbuch-Experte Ralf Schweickart antwortete in seinem Blog: Er finde es fraglich, "ob Menschen, die Bücher verbieten wollen, die richtigen sind, um mit ihnen über eine kinderliterarische Auszeichnungspraxis zu diskutieren". Er jedenfalls werde an seinem Standpunkt festhalten. Schon aus Prinzip, weil er für den "Ballermann-Wild-West-Ansatz", erst schießen und dann fragen, wollen wir reden, nicht zur Verfügung stehe. Wie für Wissenschaft und Forschung sei die Freiheit auch für die Kunst im Grundgesetz verbrieft, sagt Schweickart. Das gelte auch für Kinderliteratur.
die Menschen auch in all ihrer Vielfalt einfach annehmen wie sie sind ohne irgend jemanden oder gar alle als "behindert" einzustufen (wobei a) nämlich erstmal jemand definieren muss, was "behindert" überhaupt ist und b) sowieso 100 %-ig der eine oder die andere darauf bestehen wird, damit keinesfalls gemeint sein zu können)...
Nicht alltäglicher Ansatz, aber mMn trotzdem nicht wirklich zielführend. Statt (Zeit mit dem Versuch zu vertun) uns (gegenseitig) zu kategorisieren, wobei zumeist nichts Gutes herauskommt, sollten wir besser alle zusammen das Beste aus unserem Leben machen.
LG F. Quack
Allerdings finde ich erstaunlich, dass die Mainpost hier von „Behinderten“ schreibt, als ob dies das einzig erwähnenswerte Charakteristikum sei. Bitte zukünftig: Menschen mit Behinderung!
Weiter finde ich erstaunlich, dass hier auf den Blog von Ralf Schweickart verlinkt wird.
Bei anderen Fällen und Themen akzeptiert die Mainpost nicht einmal die Verlinkungen zu entsprechenden weiterführenden Seiten im Forum….inakzeptabel!
Ich weiss nicht wirklich, wieso "Mensch mit Behinderung" präferiert wird.