Vor 80 Jahren, am 22. Juni 1941, überfielen deutsche Truppen die Sowjetunion. Nach kurzer Zeit waren unzählige Menschen tot, darunter Zehntausende von Juden, die noch vor Errichtung der Vernichtungslager von Einsatzgruppen erschossen wurden. Der 53-jährige General Erich von Manstein, der das 56. Motorisierte Armeekorps führte, erließ am 20. November 1941 einen Befehl, wonach das „jüdisch-bolschewistische System“ ein für alle Mal ausgerottet werden müsse.
Ein Onkel des Nazi-Generals, der 72-jährige Zeichenlehrer Ernst von Manstein, lebte in jenem Jahr in Würzburg – als frommer Jude, der am Freitagabend die Vorhänge seines Hauses in der Keesburgstraße 13 zuzog, damit Vorbeikommende nicht sehen konnten, dass er die Sabbatkerzen entzündete.
Aus einer altpreußischen Adelsfamilie
Der 1869 geborene Ernst von Manstein entstammte einer altpreußischen Adelsfamilie, in der viele Söhne hohe Militärposten innehatten. Doch Ernst sah sich mehr als Künstler denn als Soldat; er spielte Geige und malte und studierte Kunstgeschichte. Gegen 1890 kam er nach Würzburg, wo er seinen Militärdienst in der Kapelle des in der Zellerau stationierten 9. Infanterieregiments ableistete. Der preußische Protestant Manstein sollte Würzburg nie wieder verlassen und sich hier von allen Traditionen seiner Familie lösen.
Der junge Adelige lernte jüdische Menschen kennen und beschäftigte sich intensiv mit deren Religion. Er beschloss, ebenso wie seine Braut Franziska, die er 1892 heiratete, zum Judentum überzutreten, was – wie die Beschneidung – in Amsterdam geschah. Ab diesem Zeitpunkt führte das Paar in seinem Haus in der Keesburgstraße einen streng koscheren Haushalt und der Ehemann nahm eine immer prominentere Stellung in der jüdischen Gemeinde ein, deren Mitglieder ihn wegen seines Glaubenseifers bewunderten.
Ernst von Manstein wirkte als akademischer Zeichenlehrer an verschiedenen Bildungseinrichtungen. Am Adams-Institut, einer privaten Realschule mit Handelsabteilung, unterrichtete er bis zu deren Auflösung 1929; außerdem war er Fachlehrer an anderen höheren Schulen der Domstadt und an der Kunstabteilung der Maxschule. An der Israelitischen Präparandenschule in Höchberg gab er Zeichen- und Musikunterricht, bis diese 1931 mit der Israelitischen Lehrerbildungsanstalt in der Sandbergerstraße (heute David-Schuster-Realschule) fusionierte, wo er weiter unterrichtete.
In seiner Freizeit befasste sich Manstein mit Naturstudien in seinem ausgedehnten Garten; er versorgte Bienenvölker und züchtete Apfelbäume. Der stille, zurückhaltende Mann liebte es zudem, Kammerkonzerte mit anderen Musikern in seinem Haus zu veranstalten und zu malen. 1909, als er 40 Jahre alt war, hielt er vom rechten Mainufer aus den Blick auf die Festung aus einer eher ungewöhnlichen Perspektive fest. Auf dem Main waren an diesem strahlenden Frühlingstag vier Ruderer mit Steuermann unterwegs.
Gut zu erkennen ist die Einfahrt zum Burkarder Umlaufkanal, der unterhalb der Festung hinter und unter den Bastionsmauern in Richtung Alte Mainbrücke führte. Der Kanal, angelegt von Balthasar Neumann und mit einer 50 Meter langen Schleusenkammer versehen, diente zur Umfahrung der 120 Zentimeter hohen Muschelkalkstufe, die den Main zum Antrieb der Unteren Mainmühle staut, und machte den Bereich um die Burkarder Kirche zu einer Halbinsel. Als nach dem Zweiten Weltkrieg die neue Schleuse entstand, wurden große Teile des Kanals aufgefüllt und überbaut.
Der Würzburger Kunstmaler Ernst von Manstein und sein Neffe Erich von Manstein sind sich aller Wahrscheinlichkeit nach nie begegnet. Der Militärmann machte im Dritten Reich schnell Karriere und arbeitete den Plan zur Niederwerfung Frankreichs 1940 aus, der ihm die Anerkennung Hitlers samt Ritterkreuz des Eisernen Kreuzes einbrachte.
Lebensmöglichkeiten der Würzburger Juden immer mehr eingeschränkt
Unterdessen wurden die Lebensmöglichkeiten der Würzburger Juden immer mehr eingeschränkt, bevor 1941 und 1942 die großen Deportationen einsetzen. Da Manstein nach den nationalsozialistischen Rassegesetzen „Arier“ war, entging er im Gegensatz zu seinen jüdischen Freunden der Verschleppung, doch musste er schließlich, nachdem die geplante Emigration nach Palästina gescheitert und seine Frau gestorben war, in das Haus Domerschulstraße 25 ziehen. Hier lebten einige wenige Jüdinnen und Juden, die, weil sie beispielsweise mit einem Christen verheiratet oder wie Manstein zum Judentum übergetreten waren, nicht ermordet werden sollten.
Ernst von Manstein starb am 17. Januar 1944; sein Wunsch war es gewesen, auf dem jüdischen Friedhof im Grab seiner Frau beerdigt zu werden, doch die Würzburger Nazi-Behörden veranstalteten – wohl wegen des berühmten Verwandten – ein Propagandabegräbnis auf dem Hauptfriedhof. Zuvor hatten sie den Baron gezwungen, aus der jüdischen Religionsgemeinschaft auszutreten.
Im Jahr 1945 geriet Erich von Manstein, der inzwischen zum Generalfeldmarschall befördert worden war, aber die Gunst Hitlers verloren hatte, in Gefangenschaft; 1949 wurde er Kriegsverbrecher verurteilt. Nach seiner Haftentlassung 1953 war er bis 1960 inoffizieller Berater der Bundesregierung bei der Aufstellung eines neuen Heeres für die Bundeswehr.
In seinem Würzburg-Roman „Nicht von jetzt, nicht von hier“ schrieb der in Würzburg geborene israelische Dichter Jehuda Amichai 1963, Erich von Manstein sei „ein großer General gewesen, dessen strategische Lehren sämtliche Offiziere, einschließlich derer der israelischen Armee“ studiert hätten.
Die sterblichen Überreste seines Onkels Ernst von Manstein wurden 1960 in das Grab seiner Frau Franziska auf dem jüdischen Friedhof in der Werner-von-Siemens-Straße überführt.