Mitte Juni 1941: Der 39-jährige August Deufert ist in der Wetterwarte auf dem Würzburger Fliegerhorst am Galgenberg beschäftigt. Er erlebt mit, wie Schulmaschinen, aus dem Osten kommend, zwischenlanden. Er erfährt, dass die Pilotenausbildung in den Westen verlegt wird und dass Ostpreußen zum Operationsgebiet erklärt worden ist.
„Warum das alles?“, fragt sich Deufert. Er weiß es, aber er weiß auch, dass man die Wahrheit nicht aussprechen darf: „Dass es nach Krieg mit Russland aussieht.“ So steht es in seinen unveröffentlichten Memoiren, die mit dem Überfall auf die Sowjetunion einsetzen.
Am 15. Juni 1941 findet die traditionelle Würzburger Fronleichnamsprozession statt. Es ist kalt und trüb, Fahnen haben die Nationalsozialisten nicht erlaubt. Vor allem Alte, Ordensschwestern und Kinder wallen mit, darunter Hermann und Maria, die Kinder von Otto Seidel (50), einem Angestellten der Universitäts-Augenklinik am Röntgenring.
Seidel ist Chronist der alltäglichen Ereignisse in Würzburg; er notiert die kleinen und großen Veränderungen, die der Krieg bringt, in sein Tagebuch. Schon wieder sind die Fleischrationen verringert worden. In diesem Sommer herrscht außerdem, so schreibt er, Bierknappheit und es mangelt an Kartoffeln, dem wichtigsten Grundnahrungsmittel.
Die 19-jährige Ortrun Koerber, die gerade die letzte Abiturprüfung hinter sich gebracht hat, führt ebenfalls Tagebuch. Sie hasst Hitler. Bei der Eroberung Kretas Ende Mai sind viele deutsche Soldaten gefallen. „Das scheint Hitler nichts auszumachen“, notiert sie. „Er spielt mit seinen Soldaten, als ob sie Figuren auf einem Schachbrett wären.“
Major Oertzen am 29. Juli 1941 im Würzburger Fliegerhorst
Hermann Zilcher (59) hat das Mozartfest, es ist sein zwanzigstes, wie immer perfekt vorbereitet. Er leitet die erste Nachmusik, die am Samstag, dem 14. Juni, um 19 Uhr im Hofgarten der Residenz beginnt. Auch an diesem Abend vor Fronleichnam ist es ungemütlich kalt. Im Programmheft, das die Besucher erhalten, schwärmt Zilcher von der „heiteren Schöpferfreude“, die sich in Residenz, Hofgarten und Mozart'scher Musik äußert.
Die NS-Organisation „Kraft durch Freude“ (KdF) hat dafür gesorgt, dass bei der Nachtmusik nach einer „Hymne an Deutschland“ („Dir schwören wir Treue mit Herz und mit Hand. Kein anderes Land ist dir gleich“) erstmals ein idyllisches „Schäferspiel“ mit 80 Tänzern und Tänzerinnen aufgeführt wird.
Die Zuschauer im kühlen Hofgarten lassen sich von der Vorführung des „Bund deutscher Mädel“, der KdF-Sportgruppe und einer Balletttruppe nur zu gerne für eine Stunde in die scheinbar heile Welt des Rokoko entführen. Auch Hermann Zilcher hat Grund zur Freude. Der Salzburger Regierungspräsident und SS-Oberführer Dr. Reiter überreicht ihm die Urkunde zur „Goldenen Mozart-Medaille“.
Ablenkung tut Not, denn natürlich ist der Krieg, der schon fast zwei Jahre dauert, bei allen präsent, wenn auch die meisten deutschen Städte bisher noch von schweren Bombardements verschont blieben. In England sieht es anders aus. Am 17. Juni berichtet das Würzburger NS-Blatt „Mainfränkische Zeitung“ – der „Würzburger General-Anzeiger“ musste gerade sein Erscheinen einstellen – voller Begeisterung von den Auswirkungen der deutschen Bombardements auf London.
Der Eindruck der Ruinen sei „entsetzlich“, wird ein amerikanischer Korrespondent zitiert. Tausende von Londonern hätten ihre Wohnungen verloren, ein großer Teil der Bevölkerung lebe unterirdisch.
Am 19. Juni, einem Donnerstag, findet im Kaisersaal der Residenz das zweite Orchesterkonzert des Mozartfests statt. Die Rezension der „Mainfränkischen Zeitung“ erscheint am Samstag, dem 21. Juni. Mancher Würzburger, der am Samstag nicht die Zeit für die Lektüre fand, wird Alfons Stiers Artikel am Sonntag nicht mehr mit der nötigen Aufmerksamkeit gelesen haben.
Das Mozartfest beweise, „dass man in Deutschland auch heutzutage höchste Kultur zu pflegen weiß“ schreibt Stier. Im Radio hören die Menschen derweil vom Überfall auf Russland (Codename: „Unternehmen Barbarossa“), der gerade begonnen hat.
„Heute Morgen um 1/2 6 Uhr klingelte das Telefon“, notiert August Deufert. „Ich war gerade aufgestanden, um mich für den Sonntagsdienst fertig zu machen und griff nach dem Hörer des Apparates. Der Gefreite Wiendl teilte mir mit, dass soeben im Rundfunk bekannt gegeben wurde, dass die deutschen Truppen auf der ganzen Front den Vormarsch gegen Russland angetreten hätten. Ich war zutiefst erschrocken und doch auch wieder nicht überrascht, ahnten wir doch schon die kommenden Ereignisse.“
„Ich bin mir klar darüber, dass es jetzt ernst für uns werden kann“, schreibt Deufert weiter.
Auch die Abiturientin Ortrun Koerber ist skeptisch – und das aus gutem Grund. Sie hat mit Eltern und Geschwistern in Japan gelebt, wo ihr Vater an einer Universität unterrichtete. 1939 war die Familie mit dem Zug nach Deutschland gereist. „Russland ist ein ungeheuer großes Land“, erinnert sie sich in ihrem Tagebuch. „Wir brauchten zwei Wochen, um von einem Ende zum anderen zu reisen.“ Ihre Skepsis rührt von dieser Erfahrung her: „Glaubt Hitler wirklich, dass er diese Nation leicht besiegen kann?“
Ortrun Koerber 19-jährige Abiturientin
Am 25. Juni vermeldet die „Mainfränkische Zeitung“, wie schon an den Tagen zuvor, auf ihrer Titelseite „große deutsche Erfolge im Osten“. Im hinteren Teil steht eine Anzeige des O-Li-Kinos. Dort läuft an diesem Tag der „humorsprühende neue herrliche Bavaria-Großfilm“ mit Hertha Feiler und Heinz Rühmann an. Der Titel: „Hauptsache glücklich“.
Doch die Skepsis bleibt. Am 7. Juli schreibt August Deufert: „So groß die deutschen Erfolge auch sein mögen – an Siegen sind wir allmählich gewöhnt – ein entscheidender Schlag konnte gegen die russische Armee nicht geführt werden. Ob man gleich am Anfang mehr erwartete? Es will mir so scheinen. Am Samstagabend äußerte ein Oberleutnant an der Tafel, er hätte eigentlich für Sonntag die Einnahme Moskaus erwartet. Vielleicht kommen noch größere Enttäuschungen!“
An der Ludwigsbrücke, der heutigen Friedensbrücke, ist ein Rummel aufgebaut, den Otto Seidel am 7. Juli mit seinen Töchtern Maria und Elsa besucht: „Im Spiegelkabinett lachten wir, die Kinder fuhren Achterbahn und Motorrad-Karussell.“ Auch Seidel kann die Wirklichkeit des Krieges richtig einordnen; er war Frontsoldat im Ersten Weltkrieg und kam mit einer schweren Verwundung aus dem Feld zurück.
„Die Deutschen stoßen in Russland vor, aber wohl nicht ganz so schnell, wie sie gehofft hatten“, notiert Ortrun Koerber am 24. Juli. Ihre Hoffnung richtet sich auf die Alliierten: „Unterdessen wird England stärker“ schreibt sie fast prophetisch.
Als Prophet versucht sich am 29. Juli auch ein Major Oertzen, der die Besatzung des Würzburger Fliegerhorsts zum Vortrag „Großraumwirtschaft im neugeordneten Europa“ befiehlt. „Nach dem Krieg würden wir führend in Europa sein; auch Afrika werde uns unterstehen“, notiert August Deufert.
„20 000 Bauern stünden bereit, um nach Russland zu gehen und die Oberaufsicht über große Güter zu übernehmen“, zitiert der 39-Jährige den Major. Man werde ihnen Flugzeuge zur Verfügung stellen. Japan werde Australien bekommen. Was mit Indien geschehe, sei noch ungewiss.
„Phantastereien!“, urteilt Deufert. „So verteilen wir die Welt, bevor wir sie besitzen.“
Am Vormittag des 31. Juli geht Otto Seidel mit den Kindern Maria und Walter zum Hauptbahnhof. Aus Russland ist der erste Lazarettzug eingetroffen. Viele weitere werden ihm folgen.
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