Erna war eine Cousine von Ludwig Gutmann, einem jüdischen Viehhändler, der am 25. Juni 1902 in Schwanfeld geboren worden ist. „Nette Leute“ seien die Gutmanns wohl gewesen, weiß die heutige Besitzerin seines Hauses in der Jägergasse vom Hörensagen. Das gutbürgerliche Anwesen aus dem 19. Jahrhundert, dessen Fassade unter Denkmalschutz steht, wird gerade für eine private Nutzung renoviert.
Über Erlebtes geschwiegen
Landwirtssohn Erwin Eichelbrönner hat Ludwig Gutmann, den „Hofjuden“ (alleinigen Viehkäufer) des Vaters, noch gut gekannt: „Ein ganz kluger Mann“, sagt der heute 80-Jährige, der Gutmanns Fahrer und Trauzeuge war, „hat viel erlebt.“ Allerdings habe Gutmann wenig über die Vergangenheit geredet: Sobald vom Tod seiner Frau Therese und des kleinen Sohns gesprochen wurde, seien ihm die Tränen gekommen.
Beim November-Pogrom 1938 wurde Ludwig Gutmann verhaftet, kam für vier Wochen ins KZ Dachau. Mit dem Überfall auf die Sowjetunion 1941 lief die Vernichtungsmaschinerie an: Zusammen mit Frau und Kind wurde Gutmann in Würzburg interniert, wurden ihm das letzte Vermögen und die deutsche Staatsbürgerschaft abgenommen.
Am 27. November 1941 deportierte die Gestapo Gutmann mit 201 Leidensgenossen in Richtung Riga, Bahnhof Skirotawa. Als auf dem Transport die Familie getrennt wurde, soll sich seine Frau mit dem Sohn widersetzt haben. Beide wurden dann angeblich erschossen – der neunjährige Gert in den Armen der Mutter. Als offizielles Todesdatum der gebürtigen Thekla Therese Schwab aus Rimpar nennt das Bundesgedenkbuch den 26. März 1942: An diesem Tag wurden im Bikernieki-Wald nahe der lettischen Hauptstadt rund 1700 Deportierte getötet, darunter viele Würzburger.
Da die „Liquidierung“ des Rigaer Ghettos Ende 1941 noch andauerte, kam Gutmann ins KZ Jungfernhof, einem ehemaligen Gutshof an der Düna. An drei Tagen ermordete die deutsche „Einsatzgruppe A“ 27 000 lettische Juden in den Kiefernwäldern von Rumbula, wo sie in Massengräbern verscharrt wurden.
Der Schwanfelder Viehhändler überlebte in einem Arbeitskommando der SS: Zusammen mit anderen Juden musste er den Wert requirierten Viehs feststellen. Die „Zwangsrekrutierten“ trugen laut Zeitzeugen ausgerechnet SS-Uniformen – mit Judensternen.
„Kriegsgefangen“ in Russland
Als Mitte 1944 die Ostfront in Polen zusammenbrach, hatte der Obersturmführer der Kompanie Befehl, vor dem Rückzug „seine“ Juden zu erschießen. Stattdessen ermöglichte er ihnen die Flucht zu den Russen – aus einem Stall, in dem man sie nachts eingesperrt hielt. Erwin Eichelbrönner erinnert sich, dass Gutmann später in einem Verfahren zu Gunsten des Offiziers aussagte.
Stalins kafkaeskes Willkürsystem gewährte dem Flüchtling das, was ihm die Nazis verweigert hatten: Es behandelte ihn, den Mann ohne Papiere, wie einen Deutschen. Wegen „Spionage“ und als „allgemein gefährliches Element“ – zwei Standardanklagen – wurde der Schwanfelder zunächst ins Gefängnis, dann in den Gulag gesteckt.
Erst 1956, nach Adenauers Besuch in Moskau, kam Gutmann mit den letzten deutschen Kriegsgefangenen frei. Da hatte der 54-Jährige sich bereits zum Leiter eines Moskauer Schlachthofes hoch gearbeitet. „Die Russen haben oft mehr Hunger gelitten als wir“, erzählte der Spätheimkehrer nachher von dieser Zeit.
Der Tragödie folgte das Satyrspiel. Da der für tot erklärte Häftling seine Ansprüche nicht bis Ende 1948 angemeldet hatte, kassierte der Freistaat „Wiedergutmachung“ bei den Käufern seines arisierten Eigentums, in Nachfolge der IRSO (Jewish Restitution Successor Organization). Das Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ berichtete im Mai 1957 von dem Fall.
Er wollte Recht, nicht Rache
Gutmann, der im Kloster Heiligenthal einquartiert war, wollte Recht, nicht Rache. Trotz „Fristversäumnis“ erhielt er seine Güter zurück. Angeblich erstattete er der Witwe, die sein Haus erworben hatte, sogar den Kaufpreis. In Israel lernte er seine zweite Frau, Lisbeth Baumann, kennen, adoptierte deren Kinder: Irit und Odet Baumann, heute Vorstandsmitglied der Israelitischen Kultusgemeinde Würzburgs.
Am 1. Februar 1984 starb Ludwig Gutmann und wurde in Würzburg-Lengfeld beigesetzt. Der Weg, der zum Schwanfelder Judenfriedhof führt, trägt seinen Namen. 2006 weihte Odet Baumann am Gefallenen-Ehrenmal eine Gedenkstele für die jüdische Gemeinde Schwanfelds mit ein. In diesem Jahr ist nun auch Lisbeth Gutmann gestorben.
„Ändern kann man es nicht mehr“, sagt Zeitzeuge Erwin Eichelbrönner heute: „Aber vergessen sollte man es nie.“