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WÜRZBURG
Wie ein Roman ein Stück untergegangenes Würzburg erzählt
Ehrungen       -  Oberbürgermeister Klaus Zeitler überreicht Yehuda Amichai (links) den Kulturpreis 1981 der Stadt Würzburg. Rechts Staatsministerin Hildegard Hamm-Brücher.
Foto: Hans Heer | Oberbürgermeister Klaus Zeitler überreicht Yehuda Amichai (links) den Kulturpreis 1981 der Stadt Würzburg. Rechts Staatsministerin Hildegard Hamm-Brücher.
Torsten Schleicher
 |  aktualisiert: 27.04.2023 06:22 Uhr

„Nicht von jetzt, nicht von hier“, der Roman von Jehuda Amichai, ist kein Text, den man in einem Zug „wegliest“. Wirklichkeit und dichterische Erfindung wechseln ebenso wie Schauplätze und Erzählperspektiven, so dass das Etikett „Würzburg-Roman“ zu kurz griffe.

Umfangreiches Veranstaltungsprogramm

Der Roman steht im Mittelpunkt der aktuellen (und bereits angelaufenen) Aktion „Würzburg liest ein Buch“. Der Autor, Sohn eines jüdischen Kaufmanns, wanderte 1935 nach Palästina aus und wurde später einer der angesehensten Dichter Israels. „Nicht von jetzt, nicht von hier“ (1963) erschien erst 1992 in deutscher Übersetzung. Zwar war Jehuda Amichai in Würzburg seit den 1980er Jahren kein Unbekannter, dass der einzige Roman des erfolgreichen Lyrikers jetzt wieder im Fokus der Öffentlichkeit steht, ist jedoch der Initiative des Vereins „Würzburg liest ein Buch“ zu verdanken, der rund um Roman und Autor ein umfangreiches und bis in den Sommer hinein reichendes Veranstaltungsprogramm organisiert hat.

Jehuda Amichai, 1924 als Ludwig Pfeuffer in Würzburg geboren und 2000 in Jerusalem gestorben, lässt seinen Roman zwar im als „Weinburg“ kaum camouflierten Würzburg spielen, doch welche Schauplätze des Romans sind im heutigen Würzburg nachzuvollziehen? Welches Juwel der Roman nicht für nur literarisch, sondern auch (lokal-) historisch interessierte Menschen darstellt, zeigt sich unter anderem in den Führungen, die der Würzburger Stadtheimatpfleger und Amichai-Kenner Hans Steidle innerhalb der Veranstaltungsreihe anbietet. Den Auftakt dazu gab es jüngst beim Weltgästeführertag, als sich circa 60 Teilnehmer unter Steidles Leitung auf die „Spurensuche nach der Stadt Jehuda Amichais“ begaben.

Verfremdungen des Romans entschlüsselt

Schnell zeigt sich: Steidle, Historiker und im Hauptberuf Lehrer, versteht es, die vielen Sprachbilder oder in literarischer Freiheit verfremdeten Geschehnisse zu entschlüsseln und dabei die Lust auf die Lektüre des  Textes zu wecken. Beispiel: Warum die Hauptfigur des Romans, der für drei Tage an die Stätte seiner Jugend zurückgekehrte Joel, von Beruf Archäologe ist? „Weil er die Vergangenheit Schicht für Schicht aufdeckt“, sagt Steidle und führt seine Gruppe zu einer Baustelle in der Bockgasse, wo gerade mittelalterliche Mauerreste freigelegt sind. Ein Stück Alt-Würzburg, noch älter als das verschwundene Würzburg aus Pfeuffer-Amichais Jugend, tritt für einen kurzen Zeitraum zutage. 

Auf den Spuren von Jehuda Amichai: Stadtheimatpfleger Hans Steidle informiert über biografische Stationen des Dichters in Würzburg.
Foto: Torsten Schleicher | Auf den Spuren von Jehuda Amichai: Stadtheimatpfleger Hans Steidle informiert über biografische Stationen des Dichters in Würzburg.

Anderer Ort, andere Szenerie: In der Dom-Passage am Modehaus Serverin lässt Steidle die Gruppe kurz innehalten. Wo heute ein asiatisches Restaurant seine Spezialitäten anbietet, gab es zur Handlungszeit des Romans in den 1950er Jahren das Café „Rialto“, das sich mit seinem modernen, glas- und metallglänzenden Interieur Joel nicht nur als „Fluchtburg aus dem alten Würzburg“ anbietet, sondern zugleich auch ein Anklang an die berühmte moderne Architektur Tel Avivs ist.

Eine nicht ausgelöschte Erinnerung

Vom Ort der Kindheit des Autors zwischen Dom- und Augustinerstraße geht die Führung weiter zu „Babetts Weinstube“, an deren Stelle früher eine Institution des alten Würzburgs stand, das Café Alhambra. Hier trank der Onkel des Autors mit Vorliebe seinen Wein, erfahren die Teilnehmer der Führung, bevor ihnen gegenüber der Alten Universität das Gebäude gezeigt wird, in dem sich im Roman das „Psychoanalytische Institut“ der Universität befindet und wo bis in die 1930er Jahre die Geschäftsräume von Amichais Vater waren. Hier entdeckt im Roman Joel hinter einer Anschlagstafel seinen eingeritzten Namen: eine nicht ausgelöschte Erinnerung.

Zwischen Exerzierplatz und Münzstraße ist eine Straße nach Jehuda Amichai benannt.
Foto: Thomas Obermeier | Zwischen Exerzierplatz und Münzstraße ist eine Straße nach Jehuda Amichai benannt.

„Ein Roman ist immer eine Erfindung“, gibt Hans Steidle seinen Zuhörern noch mit auf den Weg und empfiehlt ihnen, die Szenen des Romans langsam zu lesen und auf sich wirken zu lassen – und nur nicht auf ein fortlaufendes Geschehen zu hoffen. Über den Wert des Buches lässt Steidle keinen Zweifel: „Man muss die Geschichte und diese Geschichten weitererzählen.“ Dass dies geschieht, darum ist ihm – auch angesichts der stattlichen Teilnehmerzahl bei der Führung – nicht bange: „Noch vor zwei Jahren hat den Roman kaum noch jemand gekannt, jetzt richtet eine ganze Stadt den Blick darauf.“

Würzburg liest ein Buch

Weitere Führungen mit Hans Steidle (jeweils nur mit Anmeldung):

Samstag, 21. April, 15 Uhr: Spurensuche in der Altstadt (Treffpunkt Amtsgericht Ottostraße)

Dienstag, 24. April, 20 Uhr: Amichai bei Nacht (Nachtspaziergang; Treffpunkt Greisinghäuser, Neubaustraße)

Samstag, 28. April, 15 Uhr: Spurensuche im Quartier der Jugend (Treffpunkt Residenzbrunnen)

Informationen zu den Anmeldungen für die Führungen und zum umfangreichen Gesamtprogramm von  „Würzburg liest ein Buch“ gibt es im Programmheft, das u. a. in den Würzburger Buchhandlungen ausliegt. Weitere Infos unter: www.wuerzburg-liest.de

 
 
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