22 Jahre arbeitete Sabine Dreibholz im Frauenhaus, seit 2019 als fachliche Leiterin. Jetzt ist sie in Ruhestand gegangen. Im Interview erzählt sie, was sich ändern muss, damit Frauen ohne Gewalt leben können. "Es gibt noch dicke Bretter zu bohren", sagt sie.
Sabine Dreibholz: Ja. In meinem Jahresbericht für 2023 habe ich das so formuliert: Im virtuellen Raum werden Frauen immer mehr zum Opfer von Hatespeech und massiven sexualisierten Beleidigungen. Frauenhass und Antifeminismus werden vor allem im Internet ungeniert verbreitet. Die Zündschnur ist bei vielen Menschen kürzer geworden, der allgemeine Ton rauer und das gesellschaftliche Klima aggressiver. Das reicht auch hinein in die privaten Beziehungen. Die Zahlen von polizeilich registrierter häuslicher Gewalt steigen nahezu kontinuierlich an, in den letzten fünf Jahren deutschlandweit um 13 Prozent. 80,1 Prozent der Opfer von Partnerschaftsgewalt sind weiblich. Im Bereich der Partnerschaftsgewalt lebte die Hälfte der Opfer mit dem Täter zusammen. 133 Frauen und 19 Männer sind im Jahr 2022 durch ihre Partner oder Ex-Partner getötet worden.
Dreibholz: Das Erstarken von rechtsextremen Parteien und damit verbunden eine Zunahme der Akzeptanz einer patriarchalen Dominanz, ist auch mit einem Anstieg von Anti-Feminismus und mit Frauenhass verbunden. Das ist nicht nur in Deutschland so, beobachte ich. Man könnte das so interpretieren, dass sich der weiße Mann um seine Privilegien gebracht fühlt.
Dreibholz: Erziehung spielt sicher eine Rolle. Aber auch die traditionellen Rollenbilder, die jetzt wieder vermehrt gelebt und propagiert werden. Der Mann als Hauptverdiener, die Frau kümmert sich primär um Haushalt und Kinder. Ich sehe schon Zusammenhänge mit der sozioökonomischen Entwicklung. Die fetten Jahre sind vorbei. Die Menschen besinnen sich wieder auf feste Strukturen, die Sicherheit geben, auf Gewohnheiten, auf das, was bekannt ist.
Dreibholz: Der Anstieg der globalen und sozioökonomischen Belastungsfaktoren in gesellschaftlichen Umbruchzeiten verursacht Unsicherheiten und wirkt sich auch lähmend auf die Entscheidung aus, sich vom gewalttätigen Partner zu trennen. Die enger werden Rahmenbedingungen – Existenznöte, Angst vor sozialem Abstieg, Isolation und Überforderung, die Sorge, nach der Trennung keine bezahlbare eigene Wohnung und keinen Kitaplatz zu finden – schaffen keine Sicherheit, sondern verstärken vorhandene Zukunftsängste.
Dreibholz: Teilweise ja. Einerseits erfahren manche Frauen Unterstützung aus ihrem sozialen Umfeld, aber oft kommt es leider zur "Täter-Opfer-Umkehr". Sie verhalte sich eben nicht richtig, gebe sich nicht genug Mühe. Als wir vor 43 Jahren das Frauenhaus gegründet haben, war es Nestbeschmutzung, häusliche Gewalt anzusprechen. Die Frauenhausmitarbeiterinnen galten als Emanzen oder gar Männerhasserinnen und die misshandelten Frauen als schlechte Frauen, die die Gewalt des Partners selbst provoziert und verdient hätten. Außerdem wurde davon ausgegangen, dass Partnergewalt ein Unterschichtproblem sei. Das ist es nicht. Gewalt gegen Frauen kommt in allen Schichten, Milieus, in allen Bildungsniveaus, in allen Kulturen oder Religionen und in allen Altersstufen vor.
Dreibholz: Das Gewaltschutzgesetz muss konsequenter umgesetzt werden. Der Schutz von Frauen und Kindern muss an erster Stelle stehen. Das Gesetz ermöglicht, zum Beispiel ein Kontakt- und Näherungsverbot gegenüber denen auszusprechen, die die Frau und oder die Kinder bedrohen. Also gegen Partner, Väter, Ehemänner. Je länger es dauert, so ein Verbot auszusprechen, umso schwieriger wird die Situation für die Frau. Im Optimalfall kommt eine Eilanordnung im Lauf eines Tages.
Wir beobachten aber, dass Personalengpässe bei Behörden und Gerichten zu Verzögerungen führen. Ein weiteres Topthema ist nach wie vor der nicht funktionierende Gewaltschutz. Immer noch werden viel zu viele Femizide in Deutschland verübt und die Gewaltschutzanordnungen nicht konsequent umgesetzt, die Schutzanordnungen bleiben lückenhaft, die Polizei und Strafverfolgungsbehörden sind überlastet. Die in der Diskussion befindlichen Fußfesseln für Gewalttäter zur Kontrolle der Einhaltung des Kontaktverbotes wären eine sinnvolle Maßnahme zur Gefahrenabwehr.
Dreibholz: Viele Taten werden der Polizei nicht gemeldet, etwa durch innerfamiliäre Kontrolle und Abhängigkeiten, Angst, erlernte Hilflosigkeit sowie Unwissenheit oder infolge von Scham- und Schuldgefühlen.
Dreibholz: Informationen, über rechtliche Möglichkeiten zum Beispiel, über Hilfs- und Beratungsangebote. Es ist ganz wichtig, dass die von Gewalt betroffene Frau weiß, dass es einen Ausweg aus der Gewaltbeziehung gibt, dass sie die Gewalt nicht ertragen muss. Vor allem braucht sie konkrete Unterstützung und die Zuversicht, dass sie das schaffen kann. Viele von Gewalt betroffene Frauen fühlen sich ohnmächtig und wissen nicht, was sie tun können, um aus dieser Gewaltsituation heraus zu kommen. Aber auch der Austausch mit anderen Frauen hilft. Und das Bewusstsein, nicht sich selbst die Schuld zu geben, sich stattdessen klarzumachen, dass man nicht die erste ist, die auf einen Narzissten hereingefallen ist. Dass man nicht die erste Frau ist, die in einer toxischen Beziehung gesteckt hat. Das ist oft eine Befreiung und öffnet neue Wege. Die Frauen können dann endlich den ewigen Kampf um seine Anerkennung und Liebe aufgeben.
Dreibholz: Es ist schon paradox. Frauen retten sich und ihre Kinder aus einer von Gewalt geprägten Beziehung und sollen aber nach dem Einzug ins Frauenhaus Toleranz beweisen und großzügigen Umgang des Vaters mit den Kindern gewähren. Die seit August 2018 in Deutschland rechtsgültige Istanbul-Konvention (IK) – Übereinkommen des Europarates zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt – stellt klar, dass in allen Entscheidungen zum Sorge- und Umgangsrecht die Sicherheit der von Gewalt betroffenen Frauen und Kinder gewährleistet sein muss. Es soll ein Paradigmenwechsel stattfinden. Statt kooperierender Elternschaft nach der Trennung oder dem Recht des Kindes auf Umgang mit beiden Elternteilen steht nunmehr das Recht auf Schutz der Kinder und der Mutter vor weiterer Gewalt im Fokus. Das muss in eine veränderte Praxis bei den Familiengerichten münden. Dazu ist noch viel Überzeugungsarbeit in verschiedenen Gremien zu leisten, bei denen wir Frauenhausmitarbeiterinnen mit unserer Expertise gefragt sind.
Und "Im virtuellen Raum werden Frauen immer mehr zum Opfer von Hatespeech und massiven sexualisierten Beleidigungen. Frauenhass und Antifeminismus werden vor allem im Internet ungeniert verbreitet. Die Zündschnur ist bei vielen Menschen kürzer geworden, der allgemeine Ton rauer und das gesellschaftliche Klima aggressiver."
Das ist keine Wunschursache. Mit dem letzten Zitat wird ein Bezug zur Zunahme rechtsextremer, patriarchalischer Tendenzen hergestellt was durchaus zutrifft.
Dass es in Deutschland auch Menschen aus Kulturkreisen gibt, welchen Frauen weniger Rechte zubilligen oder diese unterdrücken, ist davon unbenommen.
Gerade deshalb sollten wir jeglichen geschlechtlichen Diskriminierungen, Unterdrückung und Gewalt entschlossen entgegentreten, anstatt mit dem Finger nur auf andere Kulturkreise zu zeigen.