Dass es anderen auch so geht. Dass es anderen auch so passiert ist. Dass andere auch in Beziehungen sind oder waren, in denen es körperliche und psychische Gewalt gab. Das zu wissen, helfe, sagt Jennifer Kohl. "Man ist nicht die einzige" - allein das zu wissen, nehme den Druck, die Schuld bei sich selbst zu suchen. Toxische Partner verstünden es, dem anderen zu vermitteln, schuld sein, dass zu Schlägen oder verbalen Attacken gekommen ist. Irgendwann verfestige sich das, sagt Kohl: "Schuld bei sich zu suchen ist eine Frauensache."
Jennifer Kohl leitet in Schweinfurt die Selbsthilfegruppe "Toxische Beziehungen und narzisstischen Missbrauch überwinden". Im September ist die Gruppe gestartet, es ist die bisher achte des Vereins "T.o.B.e - Toxische Beziehungen beenden" in Deutschland. Die Gruppe richtet sich - virtuell und in Präsenz - an Hilfesuchende aus den Regionen Schweinfurt, Bad Kissingen, Haßfurt, Bad Neustadt.
"Wir sind fast alle Betroffene": Sexueller Missbrauch, häusliche Gewalt, Femizid-Versuche
Ursprung ist eine virtuelle Selbsthilfegruppe in Facebook, erzählt Jennifer Kohl. Gegründet von Svenja Beck aus Otzberg im Odenwald, gehören aktuell 8600 Mitglieder dazu. In der Mehrheit Frauen, aber auch Männer leiden unter toxischen Beziehungen und unter körperlicher und psychischer Gewalt, sagt Jennifer Kohl. "Wir sind fast alle betroffene Personen." Manche seien knapp mit dem Leben davongekommen - wie Initiatorin Svenja Beck, die zwei Femizid-Versuche überlebt hat.
Als Femizid bezeichnet man die Tötung von Mädchen und Frauen wegen ihres Geschlechts. Andere Mitglieder kennen häusliche Gewalt oder sexuellen Missbrauch - oft aus eigener Erfahrung. In der Gruppe sind aber auch Menschen, die Angehörige haben, die viel Leid und Not erfahren haben in Beziehungen.
Jennifer Kohl war selbst mit physischer und psychischer Gewalt konfrontiert. Scheu darüber zu sprechen hat die 32-Jährige nicht. Im Gegenteil. Reden hilft, ist ihre Erfahrung: "Ich stehe dazu, was mir passiert ist. Mir ist wichtig, anderen weiterzuhelfen." Sich Hilfe zu suchen sei enorm wichtig.
Schamgefühle: Häusliche Gewalt ist oft ein Tabu-Thema
Dabei fällt genau das vielen nicht leicht. Gerade bei häuslicher Gewalt gebe es ein großes Schamgefühl, darüber zu reden und sich Hilfe und Unterstützung zu holen, sagt Kohl. Die Gruppe will beistehen - zum Beispiel mit Vorträgen von Psychologinnen und Psychologen. Wie kann man das erlebte besser verarbeiten? Wie macht man sich klar, welches Verhalten eine Grenzüberschreitung ist?
Mit im Boot sind aber auch Anwälte und Anwältinnen, sagt Kohl. Denn wer Kinder hat und sich aus einer toxischen Beziehung löse, müsse sich auch Gedanken machen über Umgang und Sorgerecht. "Du kriegst keinen Cent Unterhalt von mir, wenn Du gehst", solche Drohungen würden Frauen oft glauben, sagt die Schweinfurterin.
Vermittlung von Hilfe, Beratung und ein Tipp: die No-Stalk-App des Weißen Rings
Und die Selbsthilfegruppe vermittelt Kontakt zu Vereinen wie "Frauen helfen Frauen" mit Sitz in Schweinfurt, zum Frauenhaus Main-Rhön oder zu anderen Beratungsstellen und Organisationen wie dem Weißen Ring. Auch Kinder sind ein Thema: Denn die Streitigkeiten, die Gewalt erleben sie mit. Das könne Folgen haben für die Entwicklung, sagt Jennifer Kohl, selbst Mutter einer kleinen Tochter.
Was rät sie jemandem, der eine toxische Beziehung beenden will? "Zu sich selbst finden", ist das erste, das Jennifer Kohl einfällt. Sich klar machen, was man will und was man nicht will. Dann sollte man sich Unterstützung suchen: "Hausarzt, Psychologe, Weißer Ring, Hilfetelefon."
Kohl empfiehlt auch, sich die No stalk-App des Weißen Rings herunterzuladen. Damit könne man Vorfälle per Foto, Video oder Text dokumentieren: das Video mit Schlägen oder Beschimpfungen, die Hassbotschaften an der Windschutzscheibe, den Drohanruf. Alles wird extern gespeichert, der Partner kann das Löschen nicht erzwingen. Und die Dokumente gelten bei Polizei und Gericht als Beweise.
Gewalt gegen Frauen: Alarmierende Zahlen
Die offizielle Statistik ist alarmierend: Laut Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend wird Deutschland "jede dritte Frau mindestens einmal in ihrem Leben Opfer von physischer und/oder sexualisierter Gewalt". Und: Etwa jede vierte Frau werde mindestens einmal Opfer körperlicher oder sexualisierter Gewalt durch ihren aktuellen oder durch ihren früheren Partner.
Bundesfamilienministerin Lisa Paus sagt mit Blick auf die aktuellen Zahlen: "Jede Stunde erleiden durchschnittlich 13 Frauen Gewalt in der Partnerschaft. Beinahe jeden Tag versucht ein Partner oder Expartner eine Frau zu töten. Fast jeden dritten Tag stirbt eine Frau durch ihren derzeitigen oder vorherigen Partner." Das sei die Realität, sagt Paus. Und: "Realität ist auch, dass viele Gewaltopfer Angst haben, sich Hilfe zu holen."
In Schweinfurt will die Selbsthilfegruppe um Jennifer Kohl das jetzt ändern.
Die Selbsthilfegruppe trifft sich mittwochs von 17.30 bis 19.30 Uhr. Immer im Wechsel virtuell oder (wieder am 7. Dezember) in Präsenz, Am Schrotturm in Schweinfurt. Kontakt: Tel. (0171) 7089 716 oder per Mail an kontakt@tobe-verein.de, Infos: www.tobe-verein.de.
Das Hilfetelefon "Gewalt gegen Frauen" ist ein bundesweites Beratungsangebot für Frauen, die Gewalt erlebt haben oder noch erleben: Tel. 08000 116 016.
Der Verein "Frauen helfen Frauen" ist Träger des Frauenhauses für die Region Main-Rhön in Schweinfurt und der Fachberatungsstelle bei häuslicher und sexualisierter Gewalt. Kontakt: Tel. (09721) 786030, per Mail: frauenhaus.schweinfurt@t-online.de