
Wenn Gerhard Schmitt am Marktplatz steht, dann sieht er die Ereignisse vor 80 Jahren vor seinem geistigen Auge ablaufen. Und hört wieder diesen höllischen Lärm. "Das war ein Motorengedröhne von den Jeeps, Lastwagen und Panzern. Eine endlose Kolonne mit Militärfahrzeugen, die über die Marktstraße auf den Marktplatz gefahren kam und immer wieder stoppen musste."
Es ist der 13. April 1945: Das Deutsche Reich mit seiner NS-Diktatur liegt am Boden, die US-Army hat soeben Gerolzhofen eingenommen. Schmitt ist sechs Jahre alt, "ein Knirps". Auf der Treppe an der ehemaligen Stadtapotheke, dem Nachbarhaus, wo er aufwächst, verfolgt er den Einmarsch der amerikanischen Truppen an jenem Frühlingsmorgen.

"Ich stand ganz oben, so konnte ich über die Köpfe der Erwachsenen schauen, sonst hätte ich gar nichts gesehen", sagt er. Vor ihm stehen die Leute in Reihen, viele schauen verängstigt drein. Auch der Junge fürchtet sich, denn manche Soldaten schwenken bedrohlich die auf den Fahrzeugen montierten Maschinengewehre. "Das war furchterregend."
An vielen Häusern sind weiße Tücher und Laken als Symbol des Friedens zu sehen. So ist es auch bei den Schmitts: Mutter Maria hat einen Bettüberzug aus dem Wohnzimmerfenster gehängt.
Drohung des SS-Kommandeurs: "Wer die weiße Fahne hißt, wird erschossen"
Dieses Datum markiert einen Wendepunkt in der Geschichte der Stadt. Während der Zweite Weltkrieg in Deutschland erst am 8. Mai endet, wird Gerolzhofen bereits an jenem Freitag im April vom Nazi-Regime befreit – und zwar friedlich. Von einem Bombardement wie andernorts bleibt die Bevölkerung verschont.
Rückblick, eine Woche vorher: Seit einiger Zeit waren Nachrichten im Umlauf über das Vorrücken der alliierten Streitkräfte, die Anfang April Würzburg eingenommen hatten. Von Volkach kommend, lieferten sich SS-Einheiten mit Amerikanern immer wieder Gefechte und Scharmützel, etwa in Zeilitzheim, auf dem Eulenberg und Eichelberg.
Der dortige SS-Kommandeur drohte: "Wer die weiße Fahne hißt, wird erschossen." So ist es nachzulesen in einem Lesebogen zum Zweiten Weltkrieg für die Volksschulen, der in den 1950er-Jahren vom Schulamt im Altlandkreis Gerolzhofen veröffentlicht wurde.
Immer wieder tauchten versprengte deutsche Soldaten auf der Flucht vor der US-Army in umliegenden Orten und der Stadt auf. Die Furcht der Bevölkerung ist groß, dass die Amerikaner beim Einmarsch auf Widerstand stoßen könnten. Meist aber zogen die Landser zügig weiter in Richtung Steigerwald.

Ein Anschauungsbeispiel, was bei Gegenwehr passieren könnte, mussten die Gerolzhöfer am 10. April in unmittelbarer Nähe miterleben. Unüberhörbar und unübersehbar sind die Kämpfe im benachbarten Alitzheim.
Alitzheim erlebte den schwärzesten Tag in seiner Geschichte
Jener Dienstag geht als "schwärzester Tag" in die Geschichte des Ortes ein, heißt es in jenem Schulamt-Lesebogen. In der Nacht waren starke Einheiten einer SS-Junkerschule aus München eingetroffen, die den Vormarsch der Amerikaner zwischen Herlheim und Alitzheim aufhalten wollten.
Als deren Panzereinheiten mit rund 200 Fahrzeugen mehrmals auf Widerstand stieß, obwohl eine weiße Fahne am Kirchturm gehisst worden war – was allerdings ohne Zustimmung der SS geschah – nahmen die US-Truppen das Dorf unter kräftigen Beschuss. Die drängenden Bitten der Bewohner nach einer Aufgabe wurden von der SS nicht erhört, weshalb die Menschen in den Kellern Schutz suchten.
Die Folgen waren gravierend für Alitzheim: Ein Wohnhaus und 16 große Scheunen mit Nebengebäuden und Ställen wurden ein Raub der Flammen. Unzählige Tiere starben. Die Feuersäule war weithin zu sehen.
Es folgten Straßen- und Häuserkämpfe, nachdem die US-Truppen in den brennenden Ort eingerückt waren. Ein angedrohter Fliegerangriff konnte nur verhindert werden, weil die Amerikaner das Dorf noch am Vormittag komplett einnehmen konnten. Es war, so steht es im Lesebogen, "ein Glück im Unglück".
Dramatische Momente beim Gerolzhöfer Frauenaufstand
Schon einige Tage vor diesem Ereignis fürchteten sich große Teile der Bevölkerung in Gerolzhofen vor einem solchen Schreckensszenario. Dies mündete in den Frauenaufstand am 6. April. Den ganzen Tag war Geschützdonner zu hören gewesen. "Es bestand kein Zweifel – die Amerikaner waren in bedenklicher Nähe." Mit diesen Worten wird Lehrerin Josefine "Schossi" Schmitt im Lesebogen zitiert.

Sie wird schließlich zur zentralen Figur des Aufstandes. Nicht etwa aus Überzeugung. Zu lange war sie der NS-Diktatur zugeneigt. Sondern weil sich die Erkenntnis durchsetzte, die Stadt und ihre Menschen vor einer Bombardierung und der Zerstörung retten zu müssen.
Professor Dr. Rainer Lengs von der Universität Würzburg bewertete 2015 die historischen Ereignisse neu: Der Frauenaufstand sei kein kollektiver Widerstandsakt gegen das Regime gewesen, eine Befreiungstat aber allemal. Anlass für seine wissenschaftliche Untersuchung seinerzeit war das hochgelobte Theaterstück "Fräulein Schmitt und der Aufstand der Frauen" des Kleinen Stadttheaters unter der Regie von Silvia Kirchhof.
Hunderte, womöglich bis zu 1000 Menschen, darunter viele Frauen, aber auch Kinder und einige in der Stadt verbliebene Männer, hatten am 6. April 1945 auf Initiative von Schmitt auf dem Marktplatz für die kampflose Übergabe der Stadt demonstriert. Es müssen sich dramatische Szenen abgespielt haben.
Gerhard Schmitt war mitten im Geschehen. An der Hand seiner Mutter erlebte er, wie wütende Frauen den NSDAP-Ortsgruppenleiter Ludwig Zrenner, der zuvor die Verteidigung der Stadt angeordnet hatte, am damaligen Postgebäude beim Eulenturm zur Rede stellten. "Es gab eine Schreierei, es war eine aufgeheizte Stimmung", erinnert sich Schmitt.

Kurz vorher waren mehrere Männer Felix Raab, Georg Höret und Karl Eich ins Rathaus gelangt und hatten die weiße Fahne gehisst. Erst als es einen Fliegeralarm gab, zerstreute sich die aufgebrachte Menge. Daraufhin erließen die Nazis mehrere Haft- und Todesbefehle unter anderem gegen die Lehrerin Schmitt und Verantwortlichen der Fahnenaktion, die daraufhin flüchteten.
Ein gutes Ende für Gerolzhofen am 13. April
Der Aufstand erreicht gleichwohl sein Ziel: Als die Amerikaner eine Woche später, am 13. April, um zehn Uhr in die Stadt fahren, fällt kein einziger Schuss. Die Ansage der US-Truppen kommt allerdings sehr kurzfristig.
Am Morgen lassen sie den Gerolzhöfer NSDAP-Bürgermeister Hans Greß zu sich nach Alitzheim rufen, nennen Bedingungen für eine kampflose Übergabe und teilen mit, dass sie in einer Stunde einmarschieren werden.

Greß rast daraufhin zurück, um die Bevölkerung zu warnen. Auch am Marktplatz ist er zu sehen, wo die Familie von Gerhard Schmitt die Nachricht erfährt. Am Fenster sieht er, "wie der Bürgermeister mit seinem Sachser-Motorrad vorbeigefahren ist."
Schon kurze Zeit später schlängelt sich die Fahrzeug-Kolonne der Amerikaner "stop and go" durch die engen Gassen der Stadt. Dieser Freitag wird zum Tag eins in Frieden und Freiheit, nach mehr als fünf Jahren Krieg und zwölf Jahren Nationalsozialismus.
Sechs Wochen später wird Schmitts Vater Karl, ein Uhrmachermeister, Nachfolger von Greß. Die US-Militärregierung bestimmt ihn zum ersten Bürgermeister nach Kriegsende. Eine neue Zeitrechnung beginnt in Gerolzhofen.