Die Reise zurück in die jüngere Geschichte Gerolzhofens beginnt im Zeitraffertempo. Zwölf Jahre „Drittes Reich“ flimmern in Wochenschau-Manier über den LED-Schirm im Bühnenhintergrund. Vom Führerkult der Anfangstage mit Masseninszenierungen in Riefenstahl-Ästhetik bis hin zum bitteren Ende: zerschundene deutsche Landser in Stalingrad, D-Day, zerbombte Städte. Dresden. Würzburg. Schweinfurt. Und ein Bild von dieser Stadt, versehen mit der bangen Frage: Gerolzhofen? Nein. Gerolzhofen ist nichts passiert.
Die Stadt blieb verschont, weil gerade noch rechtzeitig die weiße Fahne gehisst wurde. Man schrieb den 6. April 1945, als sich mehrere hundert Frauen, Kinder und einige Männer auf dem Marktplatz versammelten, um gegen eine Verteidigung der Stadt zu protestieren. Dazu aufgerufen hatte die Lehrerin Josefine Schmitt.
Die Widerstandskämpfer von eigenen Gnaden werden mehr und mehr. Ein Käfig voller Helden geradezu. Das ist freilich kein reines Gerolzhöfer Phänomen. Denn Wendehälse wie die drei Frauen, die zuerst auf die Bühne kommen, gab und gibt es wohl in jedem politischen System und in jeder x-beliebigen Ortschaft. Renate (Alexandra Detsch), Eva (Hiltrud Weinig) und Sieglinde (Stefanie Dülk) streifen die braune Vergangenheit, wenn auch nur äußerlich, so rasch ab wie ihre Kittelschürzen und tanzen beschwingt im Rhythmus der neuen Zeit zum Big-Band-Sound.
Ist es also verwunderlich, dass der US-Major Bartholomew Killroy (Heiko Schnierer) bei seiner Ankunft in Gerolzhofen genau auf diese drei Frauen trifft? Seine Mission: Er soll aufklären, was an jenem 6. April hier in der Stadt wirklich geschehen ist, wer die Guten waren und wer die Bösen.
Bei den ersten Zeugenvernehmungen scheint Killroy noch belustigt über Vögel wie diesen Felix Raab (Udo Reuß), der einst die weiße Fahne gehisst hat und sich nun selbst für „das Herz und die Faust des Widerstands“ hält. Doch das Lachen soll ihm noch vergehen.
Immer abenteuerlicher werden die Geschichten, die er sich anhören muss, immer skurriler die gegenseitig ausgestellten Persilscheine, immer infamer die Abwälzung eigener Schuld auf andere, immer dreister die offensichtlichen Lügen. Etwa, wenn ihm Raab die Geschichte von seiner Widerstandsgruppe auftischen will, die sogar den Bataillons-Gefechtsstand anzugreifen gedachte.
„Haben Sie es nicht eine Nummer kleiner?“, fragt Killroy nach. Ganz im Gegenteil: An diesem Plan war sogar der SS-Mann Josef Fieger (Erich Servatius) beteiligt, setzt Raab noch einen drauf. Was Fieger selbst natürlich gerne bestätigt und seinem Mäntelchen des braven Biedermanns gleich den kompletten Vollwaschgang gönnt: Drei Synagogen habe er vor der Zerstörung gerettet, von wegen Plünderung und Diebesgut verschachern.
Als dann noch der ehemalige Ortsgruppenleiter Ludwig Zrenner (Christian Sänger) mit seinem schmierigen Rechtsanwalt Strasser (Michael Böhm) auftaucht und mit den Worten „Sie werden sich wundern“ die reine Wahrheit über sich und natürlich die passenden Zeugen dazu ankündigt, flüchtet sich Killroy in Sarkasmus: „In dieser Stadt wundert mich gar nichts mehr. Nur zu, bringen Sie mich zum Lachen.“
Als Zrenner sich dann aber ausgerechnet von Oberwachtmeister Schenk (Robert Rüth) als Judenfreund und „treibende Kraft des Widerstandes“ darstellen lässt, ist es selbst mit Killroys Contenance vorbei. Denn Schenk hatte er bisher als „letzte moralische Instanz in der Stadt“ angesehen.
„Keinen einzigen wahren Nazi habe ich bisher zu Gesicht bekommen. Alles aufrechte Deutsche“, spottet der Amerikaner. Wohl wissend, dass es den braunen Sumpf freilich auch in Gerolzhofen gab. Und die Zuschauer bekommen dies in eingeschobenen Szenen, die sich historisch mit der NS-Zeit und dem Frauenaufstand beschäftigen, auch eindrücklich vorgeführt. Da ist das Unschuldslamm Zrenner plötzlich der personifizierte Terror, der Angst und Schrecken in der Bevölkerung verbreitet.
Da ist Albert Lucas (Philip Errington), ein sadistischer Scharfmacher, der mit Todesdrohungen und Handgreiflichkeiten schnell bei der Hand ist.
Die Zuschauer erleben die Todesangst der Josefine Schmitt (Brigitte Wozniak), die sich, von den Nazis gejagt, im Wald versteckt und mit ihrem Herrgott hadert. Sie können am Schmerz einer Mutter teilhaben, deren halbwüchsiger Sohn sich als Hitlerjunge den Amerikanern entgegenstellen soll. Sie bekommen aber auch – verpackt in eine sehenswerte Choreografie – den Mut und die Entschlossenheit der Frauen vor Augen geführt, die unter Einsatz ihres Lebens die Nazi-Herrschaft letztlich überwinden.
Dass die Aufführung ein Erfolg wird, ist auch dem engagierten Ensemble des Kleinen Stadttheaters zu verdanken. Bei 78 Akteuren auf der Bühne muss wie bei einem guten Uhrwerk jedes noch so kleine Zahnrädchen perfekt ins andere greifen. Das gelingt bei „Fräulein Schmitt“. Alle Schauspieler hauchen ihrer Rolle Leben ein, bringen Angst und Schrecken ebenso gut rüber wie Lüge und Verschlagenheit, geizen aber auch nicht mit Humor und Zynismus.
Und Fräulein Schmitt? Die wird von Killroy recht rasch vom Sockel ihres Denkmals geholt, das ihr die geschäftstüchtige Eva vorschnell setzen lassen will. Denn er legt gnadenlos die Finger in alle offenen Wunden ihrer Vergangenheit. Wie der Major überhaupt allen Gerolzhöfern noch einmal die Leviten liest, bevor er sie verlässt – selbst dem in der Stadt hochverehrten Pfarrer Josef Hersam (Bruno Steger). „Das war kein Aufstand, schon gar kein Widerstand. Reine Existenzangst hat Euch getrieben“, lautet sein wenig schmeichelhaftes Urteil.
Die Gerolzhöfer stehen bedröppelt da. Ex-Bürgermeister Gress findet als erster die Fassung wieder: „Dann gehen wir einfach wieder nach Hause.“ Xaver Schieber (Anton Hauck), der Kämmerer, fügt an: „Und machen weiter wie früher.“ Josefine Schmitt indes geht wieder zum Unterricht. Aber nicht, ohne sich zuvor noch einmal symbolisch die Hände in Unschuld zu waschen.