
Zeitlebens ist sie ihrer Heimatstadt verbunden geblieben. Daran konnten weder der Tod des Vaters und der nächsten Verwandten in den Todeslagern der Nazis etwas ändern, noch, dass sie sich als Zwölfjährige ganz allein zurechtfinden musste, um dem Hitler-Regime zu entfliehen. Bereits am 10. November ist, wie jetzt bekannt wurde, Edith Krämer im Alter von 97 Jahren in den USA gestorben.
Sie dürfte das letzte lebende Mitglied der von den Nazis ausgelöschten, jüdischen Gemeinde von Gerolzhofen gewesen sein. Auch, dass sie als „Judenstinker“ von anderen Kindern verhöhnt und geschlagen wurde, ist für sie kein Grund gewesen, ihrer Heimatstadt abzusagen. Vielmehr erinnert sie sich in einer E-Mail an ihren nichtjüdische Klassenkameraden, der ihr an diesem Tag mit den Worten beispringt: „Lasst die Edith in Ruhe. Sie ist meine Freundin.“
Edith Karola Krämer erblickt am 22. Februar 1927 als zweite Tochter von Siegfried Krämer und seiner aus Frankenwinheim stammenden Frau Selma in Würzburg das Licht der Welt. Ihre Schwester Johanna, die stets nur “Hanni“ gerufen wird, ist neun Jahre älter. Das Haus der Familie steht in der Schuhstraße in direkter Nachbarschaft zum rechts angrenzenden Hof der Familien Schulz und Wächter.

Siegfried Krämer ernährt die Familie als Vieh- und Hopfenhändler. Er ist ein geachteter Bürger und engagiert sich in der Jüdischen Gemeinde, aber auch als Vorstandsmitglied im Schützenverein ebenso wie in der Feuerwehr und im Kriegerverein. Als es in den unsicheren Zeiten 1919 darum geht, in Gerolzhofen eine paramilitärische Bürgerwehr aufzustellen, wählen die Männer den hochdekorierten, deutschnational gesinnten Teilnehmer am Ersten Weltkrieg zu ihrem stellvertretenden Führer.
Die Bedrohung durch den zunehmenden Antisemitismus als Folge der nationalsozialistischen Bewegung veranlasst ihn 1924 zur Gründung eines Ortsvereins des Reichsbunds jüdischer Frontsoldaten.
Aber all das kann nichts daran ändern, dass sich mit dem Erstarken der NSDAP, der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei, unter Adolf Hitler auch das Leben der Familie Krämer verschlechtert.
Bald ist der Name von Siegfried Krämer, dem Gerolzhöfer Schützenkönig von 1928, auf der Königsscheibe als auch auf der von ihm 1931 gestifteten Königscheibe getilgt. Immer weiter wird der Ausschluss der Jüdinnen und Juden aus der Gesellschaft durch Diskriminierung und Verfolgung von der NSDAP vorangetrieben.

Krämer erkennt die Gefahr. Nachdem Hanni 19 Jahre alt ist, beschließen die Eltern schweren Herzens, die älteste Tochter mit dem ersparten Geld durch die Auswanderung in die USA vor den Nazis außer Landes zu bringen. Edith ist im August 1937 erst zehn Jahre alt und viel zu jung, um sie ebenfalls allein ihrem Schicksal in der Fremde zu überlassen.
Es folgt die schlimmste Zeit in ihrem Leben, wie Edith Krämer später an Norbert Vollmann vom Stadtarchiv Gerolzhofen schreibt. Am 11. März 1938 stirbt ihre Mutter Selma an einer Bauchfellentzündung. Es ist der Tag, an dem Hitler den Einmarsch-Befehl zum Anschluss von Österreich an das Deutsche Reich erlässt. Selma Krämer wird auf dem Israelitischen Friedhof in Gerolzhofen beerdigt.
Außerdem muss Edith, wie alle jüdischen Kinder, die reguläre Schule verlassen und in eine rein jüdische Schule gehen. Krämer: „Dann kam der 9. November 1938, und die Hölle brach los“. Gemeint ist die Reichspogromnacht, die von den Nazis als „Reichskristallnacht“ verniedlicht wurde. In Gerolzhofen kommt es mit eintägiger Verspätung zur Verwüstung und Schändung der Synagoge in der Steingrabenstraße durch die SA-Sturmtrupps.

Edith Krämer hatte daran eine genaue Erinnerung: „Einige jüdische Kinder, darunter auch ich, hatten in den Schulräumen oberhalb der Synagoge Unterricht bei unserem Religionslehrer Heinrich Reiter. Wir hörten viel Lärm und Männergeschrei, als sie die Treppe hinauftrampelten, die Tür öffneten und schrien: Raus! Raus! Sie bestanden darauf, dass wir in der Nähe bleiben, während sie eine Tora-Schriftrolle sowie die meisten Gebetsbücher herausholten und begannen, sie vor unseren Augen zu verbrennen. Zur gleichen Zeit sammelten andere Sturmtruppen jüdische Männer und Frauen in der Stadt ein. Ich sah, wie mein Vater abgeführt wurde und rannte hinterher. Ich hielt mich an seinem Hosenbein fest, wurde aber von einem SA-Mann ins Gesicht geschlagen, so dass ich das Bein loslassen musste.“
Siegfried Krämer wird zusammen mit 17 jüdischen Männern sowie sechs jüdischen Frauen in "Schutzhaft" genommen und ins Gefängnis im heutigen VG-Nebengebäude gebracht. Auf dem Weg dorthin werden sie bespuckt und massiv beleidigt.
Im Gegensatz zu den meisten anderen wird Krämer nicht wieder in die Freiheit entlassen, sondern ins berüchtigte „Konzentrationslager“ (KZ) Dachau „verschubt“, wie es ebenso zynisch im nationalsozialistischen Sprachgebrauch heißt. Dort wird er bis Mitte Dezember festgehalten.

Verwandte und Bekannte kümmern sich um Edith. Normalerweise ist es üblich, dass sich Ehefrauen oder Eltern mit Briefen an die Geheime Staatspolizei (Gestapo) wenden und um die Freilassung bitten. Im Fall von Siegfried Krämer kommt dies seiner elfjährigen Tochter zu. Mit bemühter Kinderschrift bittet sie in dem im Staatsarchiv erhaltenen Brief vom 5. Dezember 1938 um die Freilassung ihres Vaters.
Edith Krämers großes Glück ist es, dass ihr Vater von einer Organisation namens „Kindertransport“ hört. Nach seiner Freilassung trifft er Vorkehrungen, damit seine Tochter einen Platz auf einem dieser Schiffe bekommt.
An „einem anderen denkwürdigen Tag 1939 in Deutschland“, so Edith Krämer, es ist Adolf Hitlers Geburtstag, steigt das Mädchen in den Zug nach Holland und von dort geht es mit der Fähre nach England, wo sie zur Schule gehen und eine Ausbildung zur Krankenpflegehelferin machen wird.
Um an ihre Häuser zu gelangen, werden die jüdischen Bewohner von den Deutschen auf bestimmte Häuser konzentriert. So wird Siegfried Krämer bei seinem Bruder Samuel Krämer und dessen Frau Helene in der Marktstraße zwangseinquartiert. Bereits seit 1938 wohnt auch die älteste Schwester von Siegfried und Samuel Krämer, Fanny, eine verwitwete Weil, in der Stadt.
1939 ist das Jahr, in dem Kennkarten mit einem großen „J“ für die verbliebenen Israeliten ausgestellt werden. Männliche Juden müssen den zusätzlichen Vornamen Israel tragen, die jüdischen Frauen Sara. Bald werden die Deportationen in die Todeslager im Zuge der sogenannten „Endlösung der Judenfrage“ beginnen.

Am 22. April 1942 ist es soweit. In Gerolzhofen wird der Großteil der verbliebenen Juden abgeholt. Unter der 20-köpfigen Gruppe befinden sich Siegfried (59), Samuel (55) und Helene Krämer (41) sowie Fanny Weil (63). Für die Zugfahrt in den Tod nach Krasnystaw bei Lublin im besetzten Polen muss jede Person 80 Reichsmark in bar bezahlen. Dort führt sie der Weg in die KZ genannten Menschenvernichtungslager.
Bis Herbst sind alle Deportierten in den Gaskammern umgebracht worden oder aufgrund der unmenschlichen Bedingungen umgekommen. Auch das Leben von Siegfried, Samuel und Helene Krämer sowie Fanny Weil endet im besetzten Polen. Unter dem Hinweis „Gestorben nach dem 25. April 1945“ werden sie später für tot erklärt.
Im Alter von 19 Jahren wandert Edith Krämer ebenfalls von England nach Amerika aus. Doch in ihren Gedanken kehrt sie immer wieder nach Gerolzhofen zurück. 1947 schreibt sie an ihre ehemaligen Nachbarn, die Familien Schulz und Wächter: „Könnt Ihr Euch noch an mich erinnern. Ich bin jetzt 20 Jahre alt. Bitte geben Sie meine besten Wünsche an alle weiter, die gut zu uns waren.“ 1955 kehrt sie für einen Tag nach Gerolzhofen zurück, um Bekannte der Familie zu treffen, dann nochmals 1957.

Ihre Schwester Hanni Krämer heiratet 1951 Walter W. Rostenberg in White Plains im Bundesstaat New York. 2007 zieht sie nach Kalifornien um. Dort stirbt Hanni 2019 im Alter von 101 Jahren. Edith Krämer bleibt unverheiratet. Von Boston führt sie der Weg nach Hawaii, bevor sie im Raum New York als Verwaltungsassistentin arbeitet. Ihren Lebensabend verbringt sie in Seattle an der US-Westküste.
In ihren E-Mails sieht man sie bis zuletzt immer noch förmlich die Schuhstraße entlang schlendern. Gerne kommt sie im Juni 2022 dem Wunsch von Norbert Vollmann nach, für die Gesprächsrunde des Historischen Vereins unter dem Motto „Woher? Wohin – Vom Weggehen und Ankommen“ eine Grußbotschaft zu verfassen.
Trotz allem hat Edith Krämer Frieden geschlossen. Noch mehr, sie fühlt sich nach wie vor als Gerolzhöferin. Sie schreibt: „Erwähnen Sie bitte, dass ich immer viele schöne Erinnerungen an unsere kleine Stadt haben werde, obwohl ich erst 12 Jahre alt war, als ich Gerolzhofen 1939 verlassen musste, um mein Leben zu retten. Es gab viele Menschen in unserer Nachbarschaft, die damals sehr gut zu uns waren“.
Am 10. November ist Edith Krämer im Alter von 97 Jahren in Seattle in den USA gestorben.