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Gochsheim
Aus Liebe zu ihrem behinderten Kind: "Holger darf weiterleben"
Holger hat den Körper eines großen Mannes und die Seele eines kleinen Jungen. Für die Eltern ist er Mittelpunkt im Leben. Das Portrait einer außergewöhnliche Familie.
Ingrid und Helmut Kuypers mit ihrem Sohn Holger. Seit 46 Jahren sind die Eltern rund um die Uhr für ihren Sohn da. Für dieses außergewöhnliche Engagement erhielt der Vater jetzt das Bundesverdienstkreuz am Bande. 
Foto: Torsten Leukert | Ingrid und Helmut Kuypers mit ihrem Sohn Holger. Seit 46 Jahren sind die Eltern rund um die Uhr für ihren Sohn da. Für dieses außergewöhnliche Engagement erhielt der Vater jetzt das Bundesverdienstkreuz am Bande. 
Irene Spiegel
 |  aktualisiert: 15.07.2024 11:22 Uhr

An der Pinwand im Wohnzimmer hängen viele Kinderfotos: Holger am Schlagzeug, Holger auf dem Fahrrad, Holger beim Spielen. Stolz zeigt Mama Ingrid das neueste Handyfoto von ihrem inzwischen 46 Jahre alten Sohn, wie er freundlich in die Kamera lacht. "Ist das nicht schön?!" 

Wenn Ingrid und Helmut Kuypers aus Gochsheim auf den Rat einiger Mitmenschen gehört hätten, gäbe es dieses Foto nicht. Holger wäre nicht am Leben. Die Ärzte im Krankenhaus hätten die Beatmungsmaschine abgeschaltet. Die Eltern aber sagten Nein. Aus Liebe zu ihrem schwerbehinderten Sohn. 

Für diese "bedingungslose Bejahung der Familie" und den aufopferungsvollen Pflegeeinsatz erhielt Helmut Kuypers jetzt das Verdienstkreuz am Bande. Zur Verleihung der Ordensinsignien hatten stellvertretende Landrätin Christine Bender und Bürgermeister Manuel Kneuer den Gochsheimer in die Residenz nach Würzburg begleitet.

"Es ist großartig, was Herr Kuypers leistet", sagt Landrat Florian Töpper. "Ein wahrlicher Kraftakt." Denn seit Ehefrau Ingrid wegen einer MS-Erkrankung im Rollstuhl sitzt und selbst pflegebedürftig ist, ruht die aufopfernde Pflege des Sohns allein auf den Schultern des 70-Jährigen.

Helmut Kuypers zeigt das Verdienstkreuz am Bande, das ihm verliehen wurde.
Foto: Torsten Leukert | Helmut Kuypers zeigt das Verdienstkreuz am Bande, das ihm verliehen wurde.

Holger hatte bei der Geburt Sauerstoffmangel und dadurch körperliche und geistige Entwicklungsverzögerungen. Hinzu kamen ein Herzklappenfehler und in späteren Jahren auch noch Epilepsie sowie mehrere Krebserkrankungen. Arzt- und Krankenhausbesuche gehören für die Kuypers seit 46 Jahren zum Alltag. Die Betreuung des Sohnes ist rund um die Uhr erforderlich, und sie findet ausschließlich zuhause statt. Holger braucht in allen Dingen des täglichen Lebens fremde Hilfe, beim Aufstehen, beim Ankleiden, bei der Körperhygiene, beim Essen.

Mit dem doppelsitzigen Spezialfahrrad ging es zusammen auf Tour

Das war nicht immer so. Holger sei wie jedes andere Kind aufgewachsen, erzählt die Mutter. Es ging nur alles etwas langsamer. Er besuchte die Kita in Gochsheim, danach die Franziskusschule, später die Lebenshilfewerkstatt. Die Eltern förderten den Sohn. In der Volkshochschule lernte er Lesen, Rechnen, Schreiben, "weil man das damals Kindern in der Förderschule nicht beibrachte". 

Holger war bei allem und überall dabei. Helmut Kuypers ließ ein doppelsitziges Spezialfahrrad anfertigen, damit er Ausflüge mit dem Sohn machen konnte. Er ging mit ihm Schwimmen und ermöglichte ihm therapeutisches Reiten. Bei der Gochsheimer Kirchweih war Holger selbstverständlich auch dabei und tanzte mit Lehrlingen des Vaters, der bis 1992 eine Drogerie in Gochsheim betrieb, auf dem Plan.

Seit über einem halben Jahr aber liegt Holger nur noch im Bett, kann nicht mehr laufen, nicht mehr sprechen, nicht mehr schlucken, muss über eine Bauchsonde ernährt werden. Er hatte nach der dritten Corona-Impfung Fieber bekommen und das Antibiotikum nicht vertragen. Sieben Wochen lag er auf der Intensivstation im Krankenhaus, musste beatmet werden. Die Eltern wachten abwechselnd Tag und Nacht bei ihm.

"Das Schlimmste war für uns, als die Ärzte fragten, ob wir unseren Sohn sterben lassen wollen", sagt Ingrid Kuypers mit Tränen in den Augen. "Wir haben entschieden, er soll weiterleben." Und Holger kämpft sich mit eisernem Willen wieder zurück ins Leben.  

Überrascht von der Ordensverleihung

Die Betreuung des Sohnes ist jetzt um ein Vielfaches aufwendiger, für die Eltern aber selbstverständlich. "Das macht man doch für sein Kind", sagt Helmut Kuypers. Dass er dafür nun geehrt wurde, hat ihn überrascht und gewundert. Anfänglich wollte er es gar nicht glauben. "Es ist doch normal, dass ich mich um meinen Sohn kümmere."

Erst als das dritte Schreiben aus der Staatskanzlei mit dem konkreten Verleihungstermin ins Haus flatterte, wurde dem 70-Jährigen bewusst, dass ihn Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier tatsächlich als Träger des Verdienstkreuzes am Bande ausgewählt hatte.     

Seit Ingrid Kuypers im Rollstuhl sitzt, liegt die Verantwortung für die Pflege des Sohnes hauptsächlich bei Ehemann Helmut.
Foto: Torsten Leukert | Seit Ingrid Kuypers im Rollstuhl sitzt, liegt die Verantwortung für die Pflege des Sohnes hauptsächlich bei Ehemann Helmut.

Stolz zeigt Helmut Kuypers das rote Kreuz mit dem Bundesadler in der goldenen Mitte. Es gibt genaue Regeln, wie und wann es zu tragen ist. Bei festlichen Anlässen wird es an die linke obere Brustseite geheftet. Der Orden, der in acht verschiedenen Stufen verliehen wird, ist die einzige allgemeine Verdienstauszeichnung in Deutschland und damit die höchste Anerkennung, die die Bundesrepublik für Verdienste um das Gemeinwohl ausspricht. Seit der Stiftung durch Bundespräsident Theodor Heuss 1951 wurde der Verdienstorden der Bundesrepublik Deutschland 261.614-mal verliehen (Stand: 31.12.2021).

Holger weiß, dass der Vater diese hohe Ehrung erhalten hat. Und er freut sich, auch wenn er es nicht sagen kann. Die Eltern tun alles Erdenkliche, um ihren Sohn das Leben schön zu machen. So hat Helmut Kuypers eine Glocke ans Bett gebaut, mit der sich Holger bemerkbar machen kann, wenn er etwas braucht. Wenn er den Knopf drückt, erklingt Beethovens "Freude schöner Götterfunken".

Der 46-Jährige mag klassische Musik, aber noch viel lieber Blasmusik. So hört er jeden Tag die beliebte Rundfunksendung "Mit Blasmusik durch Bayern". Zu seinem Geburtstag organisiert der Vater jedes Jahr sogar ein Ständchen der Hergolshäuser Musikanten vor dem Haus.

Die Pflege des Sohnes nimmt viel Zeit in Anspruch

Früher war Helmut Kuypers selbst im Gochsheimer Spielmannszug und im örtlichen Karnevalsverein engagiert. Die Pflege des Sohnes lässt ihm heute dazu aber keine Zeit mehr.

Helmut Kuypers zerkleinert die Medikamente im Mörser.
Foto: Torsten Leukert | Helmut Kuypers zerkleinert die Medikamente im Mörser.

Eine große Stütze für die Familie ist Gisela Schillhahn. Sie kommt täglich für einige Stunden vorbei, um die Eltern zu entlasten. Sie macht Spiele und Puzzles mit Holger oder schaut mit ihm Fernsehen. "Am liebsten mag er Sportsendungen", erzählt der Vater. Oder Vorabendkrimis, wie die Rosenheim-Cops und die Soko Kitzbühel.

Den selbstlosen Einsatz empfinden die Eltern nicht als Belastung

Der Tagesablauf ist eng getaktet. Täglich bekommt der 46-Jährige Physio- oder Ergotherapie und Logopädie. Die Therapeuten Tanja und Jonas sind inzwischen Freunde der Familie geworden. Bei der Körperwäsche hilft eine Krankenschwester.

Weil Holger seit dem Krankenhausaufenthalt nicht mehr schlucken kann, müssen seine Medikamente im Mörser zerkleinert und mit Wasser vermischt über die Bauchsonde gespritzt werden. Helmut Kuypers hat darin schon Übung, zweimal am Tag steht die Prozedur an.    

Helmut Kuypers zieht die Medikamentenspritze auf.
Foto: Torsten Leukert | Helmut Kuypers zieht die Medikamentenspritze auf.

Die Eltern haben die Pflege ihres Sohnes noch nie als Belastung empfunden. Und sie haben noch nie die Frage nach dem Warum gestellt. "Wir machen es gerne, für unseren Bua tun wir alles", sagt Ingrid Kuypers. Stundenlang sitzt sie manchmal an seinem Bett, spielt und redet mit ihm, streichelt ihm die Hand. Holger hat den Körper eines großen Mannes und die Seele eines kleinen Jungen. "Er ist so ein guter Junge und macht uns so viel Freude", sagt die Mutter.

Nachts nebenan auf dem Sofa

Am Abend übernimmt dann der Vater. Helmut Kuypers hat sich sogar sein Bett auf dem Sofa eingerichtet, damit der Sohn in der Nacht nicht alleine ist.

So viel selbstloser Einsatz sei außergewöhnlich, meinte Regierungspräsident Eugen Ehmann, als er Helmut Kuypers das Verdienstkreuz überreichte. Der 70-Jährige sei ein "herausragendes Beispiel für tätige Fürsorge und Verantwortung".

Ingrid und Helmut Kuypers wollen ihrem Sohn auch weiterhin das erleben lassen, was sie erleben. Und sie wissen: "Es war die richtige Entscheidung, dass Holger weiterleben darf."

 
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Kommentare
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  • Blauwal
    Vor dieser Familie ziehe ich meinen Hut! Das ist so toll, dass ich es gar nicht beschreiben kann. Meine Hochachtung!!!
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  • dominikzeissner@freenet.de
    Ebenso, meinen aller größten Respekt und meine Anerkennung grinsen
    Wahnsinn, was Herr Kuypers hier leistet!
    Der Familie wünsche ich nur das Beste und Gottes Segen!
    Mögen sie beschützt sein!
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  • m.schmitt.stadtlauringen@gmail.com
    Von mir auch meinen allergrößten Respekt.

    Den Orden würde ich in dem Fall allerdings eher als winzige Entschädigung begreifen für das Geld was sich der Staat im vorliegenden Fall sicherlich jahrzehntelang gespart hat durch die aufopferungsvolle Pflege.

    Aber niemand der so eine aufopferungsvolle Pflege nicht selbst physisch und psychisch leisten kann braucht ein schlechtes Gewissen haben. Der Staat bietet Angebote die im vorliegendne Fall sicherlich nicht alle angenommen wurden - angefangen von einer Unterbringung mit professioneller Betreuung. Dafür gibt es nun diesen Orden als Dank des Staates.
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  • Faultier
    "Das Antibiotika" ist falsch. Es heißt "das Antibiotikum". Antibiotika ist der Plural.
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  • ralf.zimmermann@mainpost.de
    Vielen Dank für den Hinweis, wir haben den Fehler korrigiert.

    Mit freundlichen Grüßen

    Ralf Zimmermann, Main-Post Digitales Management
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  • Vbfuerlb
    Online anscheinend nicht
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  • a.neinh79@gmx.de
    Leider verstößt Ihr Kommentar gegen die Kommentarregeln auf mainpost.de. Wir haben den Kommentar deshalb gesperrt.
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  • a.neinh79@gmx.de
    Meinen allergrössten Respekt an die Familie und alles gute weiterhin
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  • Fr-goetz@t-online.de
    Das ist unbeschreiblich was diese Familie leistet.
    Das ist mehr wie nur ein "Hut ab"!
    Dafür hat unser irdisches Leben noch keine Formel gefunden, wie dankbar man dieser Familie sein sollte, das zu so zu meistern!
    "Gott schütze sie!"
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  • ammi187@gmail.com
    Meinen allergrössten Respekt an die Familie.
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