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Gerolzhofen
Familie aus Gerolzhofen: Das wunderschöne anstrengende Leben mit einem behinderten Kind
Zum internationale Tag der Menschen mit Behinderung am 3. Dezember erzählen die Petrys aus Gerolzhofen von ihrem Leben mit Hannes, der das 5p-Syndrom hat.
Aus dem Familienalbum der Petrys: Das Bild zeigt Katja, Hannes, Max und Lars Petry.
Foto: Iris Blank | Aus dem Familienalbum der Petrys: Das Bild zeigt Katja, Hannes, Max und Lars Petry.
Daniela Schneider
 |  aktualisiert: 08.02.2024 16:45 Uhr

"Hannes ist unser Pumuckl", stellt Katja Petry gleich zum Gesprächstauftakt fest, weil ihr Sohn ein großes Herz hat und die Familie mit seiner unverfälscht-emotionalen Art zum Lachen, aber auch an den Rand der Belastbarkeit bringt.

Zum internationalen Tag der Menschen mit Behinderung am 3. Dezember haben sich die Petrys zu einem Gespräch bereit erklärt. Der jüngere Sohn hat das 5p-Syndrom – eine zufällige Laune der Natur, eine strukturelle Chromosomenveränderung, auch bekannt als Cri-du-chat-Syndrom, weil die Neugeborenen oft katzenähnlich schreien. Beim mittlerweile zehnjährigen Hannes macht sich das durch eine geistige Beeinträchtigung und psychomotorische Entwicklungsverzögerungen bemerkbar. Optisch fallen die leicht auseinanderstehenden Augen in seinem schmalen Gesicht und der etwas unkoordinierte Gang auf.

Die Schwangerschaft verlief wie schon beim ersten Sohn Max unkompliziert. Erst kurz vor dem Entbindungstermin fallen dem Frauenarzt in der gewählten Geburtsklinik Auffälligkeiten auf. Er spricht von einem möglichen Darmverschluss und empfiehlt eine Pränataldiagnostik in Nürnberg. Dort werden verschiedene Trisomien ausgeschlossen, die Ärzte empfehlen dennoch die Entbindung im Schweinfurter Leopoldina-Krankenhaus; dort gibt es eine Kinderintensivstation.

Gefühle spielten verrückt

Die Entbindung verläuft normal, nach einer Nabelschnurblutentnahme erfolgt schnell die Diagnose. Im Nachhinein ein "Glücksfall", wie die Petrys heute wissen, weil sofort erste frühkindliche Fördermaßnahmen in die Wege geleitet wurden und gleich im Leo auf den Förderverein "5pminus-Syndrom" (www.5p-syndrom.de) hingewiesen wird, in dem sie heute sehr aktiv sind.

Anfänglich bricht eine Welt zusammen. Die "Gefühle spielten verrückt", erinnert sich Katja Petry heute, zehn Jahre später. Sie fragten sich nicht nur einmal: "Warum wir?" Das Stillen wird für Mutter und Kind zur Tortur, da Hannes an einer massiven Saug- und Schluckstörung leidet. Die therapeutische Maßnahmen nehmen viel Zeit in Anspruch, in den ersten Jahren ist er extrem anfällig für Infekte und die Familie immer wieder im Krankenhaus. Vielleicht auch, weil man sich bei einem behinderten Kind mehr Sorgen macht, vermutet Lars Petry, der seine Arbeitsstunden als Schreiner bereits bei Max reduziert hat und nun auch für Hannes sorgt, während Katja Petry nach einem Jahr wieder als Grundschullehrerin arbeitet.

Spontanität sieht anders aus

Das Leben mit Hannes ist ein Abenteuer: herausfordernd und bereichernd, anstrengend und wunderschön, finden die Petrys. Jeder Schritt muss überlegt, Hannes immer beaufsichtigt werden. Spontanität sieht anders aus. Er ist laut und fordernd. Bekommt er zu wenig Aufmerksamkeit, kann der Zehnjährige unberechenbar werden – zu Hause und in der Schule in Schonungen, dort hat er seit zwei Jahren eine Schulbegleitung. Um sich bemerkbar zu machen, zieht Hannes anderen oft an den Haaren. Das sorgt auf Familienfesten, in der Schule oder wie kürzlich im Schwimmbad für Aufregung – eine unangenehme Situation, sagt Lars Petry. Das fremde Kind weint, Hannes ist außer sich und man selber dazwischen in Erklärungsnot. Dennoch sagt Lars, "hätte ich nie gedacht, dass ich ein behindertes Kind so lieben kann".

Im Augenblick sitzt Hannes mit seinem 14-jährigen Bruder Max auf dem Wohnzimmerteppich. Er trägt Kopfhörer und blickt konzentriert auf sein Tablet, dann widmet er sich seinen Playmobilfiguren am Boden. "Er spielt die Filmsequenz nach", erklärt seine Mutter. Um seine Reizoffenheit zu kontrollieren, bekommt er Ritalin, am Vormittag ist er deshalb immer eher ausgeglichen.

Hannes liebt Fußball

Alles im Haus, im Leben der Petrys ist auf Hannes und seine körperlichen und geistigen Beeinträchtigungen abgestimmt. Die Treppe ist mit einem Gitter versehen, Türklinken und Wasserhähne gesichert. Er hat ein Pflegebett, einen Rollstuhl und einen extra großen Wickeltisch, den ihm sein Vater gebaut hat. Im Familien-Bus schützt eine Plexiglasscheibe vor Glasbruch, wenn Hannes mal wieder sein Tablet an die Fensterscheibe donnert. Für den Familienurlaub hat Lars Petry einen Wohnwagen behindertengerecht umgebaut.

Hannes liebt die Berge, deshalb spielt er so gerne mit Kühen und seiner Gondel.
Foto: Daniela Schneider | Hannes liebt die Berge, deshalb spielt er so gerne mit Kühen und seiner Gondel.

Hannes liebt Fußball und Geschichten, Kühe und die Berge, der alljährliche Wanderurlaub ist ein Highlight für die Familie. Während Katja und Max zur Hütte wandern, fährt Hannes in einem speziellen Anhänger am Mountainbike seines Vaters. Oft muss ein letztes Stück gewandert werden, das schafft Hannes und wenn sich zum Ende alle auf der Hütte treffen, ist das ein unbeschreibliches Gefühl – ein absoluter Familienglücksmoment, erzählen die Eltern, der die Akkus dann wieder für eine Zeit auflädt.

Der Bruder ist der Dolmetscher

Zum Glück ist Hannes mehr oder weniger gesund. Es geht ihm gut, sagen die Eltern, wir machen viele tolle Sachen mit ihm. Er kann alleine essen und trinken, er läuft und kann kommunizieren, mit wenigen Worten und vielen Gesten und einem Talker. Max ist sein bester Dolmetscher und versteht fast alles. Manchmal muss er auch nachfragen, weil die Worte oder Gesten seines Bruders mehrere Bedeutungen haben. Die Freunde von Max akzeptieren Hannes, schicken ihn aber auch, wenn er stört, aus dem Zimmer - wie man das halt mit jüngeren Brüdern so macht.

Neben Gesten und Worten kommunizieren Hannes und Max auch mit einem speziellen Talker.
Foto: Katja Petry | Neben Gesten und Worten kommunizieren Hannes und Max auch mit einem speziellen Talker.

Benachteiligt fühlt sich Max nie, wie er sagt. Die Eltern räumen ihm viele persönliche Momente ein, beim Mittagessen nach der Schule, wenn Hannes noch nicht daheim ist, beim Wandern im Familienurlaub oder beim viertägigen Skiurlaub. Da ist Hannes bei den Großeltern, die ihn auch jeden Samstag für mehrere Stunden betreuen. Gelegentlich ist Hannes auch in der Kurzzeitpflege am Heuchelhof, die aktuell aber keine kurzzeitigen Aufnahmen aus Personalmangel zusichern kann – für viele Angehörige eine Katastrophe, sagt Lars Petry.

Die Vernetzung ist wichtig

Hilfe suchen und Hilfe annehmen, sich nicht zufriedengeben, recherchieren und fordern – das sind die Ratschläge der Familie Petry für ähnlich Betroffene. Sie sagen: "Es geht nur, wenn alle an einem Strang ziehen". Verschnaufpausen im Alltag sind wichtig, der Familienentlastende Dienst (FED) der Lebenshilfe ein Segen für die Petrys. Engagierte passen für einen geringen Obolus, den die Petrys noch aufstocken, auf Hannes auf und ermöglichen dringend benötigte Paarzeit.

Alle zwei Jahre machen die Petrys gemeinsam eine Familienkur, dafür haben sie lange gekämpft, wie auch für viele andere Dinge. Deshalb, finden sie, ist es so wichtig, sich gut zu vernetzen, in Selbsthilfegruppen aktiv zu werden, sich auszutauschen, eigene Erfahrungen zu teilen, wertvolle Ratschläge einzuholen und weiterzugeben.

Ein wenig Sorge macht Katja und Lars Petry die Volljährigkeit ihres jüngsten Sohnes. "Was wird dann, wer ist zuständig, finden wir einen Platz in einem Wohnheim, welche Leistungen gibt es dann noch?" Ihr größter Wunsch: Hannes soll glücklich sein. Denn dann sind sie es auch.

 
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Kommentare
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  • weisdergeier@gmx.net
    Selbst meine direkte Familie ließ uns deutlich spüren, dass das Kind bei ihnen nicht willkommen war.
    Bis heute übrigens. Schrecklich,und sowas nennt sich Familie. Ich wünsch Ihnen ALLEN weiter viel Kraft und Schöne Weihnachten.
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  • jutta.noether@web.de
    Danke für diesen Bericht!
    Ich kenne das so gut!

    Das Syndrom meines Sohnes war hier so unbekannt, dass ich mir damals (Ende der 90er) die grundlegenden Informationen aus England besorgen musste (zum Glück hatte eine Freundin von mir schon Internet und half beim Recherchieren), und die habe ich dann für die Ärzte und Pädagogen übersetzt.

    Aber im Alltag war ich ganz allein. Meinen Sohn sah man die Behinderung äußerlich nicht an, das machte es oft noch schwieriger, sein, nun, nennen wir es "unkonventionelles" Benehmen zu erklären.
    Selbst meine direkte Familie ließ uns deutlich spüren, dass das Kind bei ihnen nicht willkommen war.
    Bis heute übrigens.

    Und natürlich kam mein anderer Sohn immer wieder zu kurz. Ich war ja alleinerziehend, da konnte niemand ausgleichen. Er selbst machte mir deshalb nie Vorwürfe, mein schlechtes Gewissen ist aber bis heute da.

    Ich wünsche der Familie Petry ganz viel Kraft, und kann nur bestätigen: man liebt dieses Kind unendlich und würde es nie eintauschen.
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